26. April 1945. Die von der roten Armee eingeschlossene Reichshauptstadt
ist nach unzähligen alliierten Bombenangriffen und unter dem rasenden
Trommelfeuer russischer Batterien nur noch ein rauchendes Trümmerfeld.
Inmitten dieses Höllenspuks landet plötzlich wie ein im Sturm
verirrter Vogel dicht vor dem Brandenburger Tor ein durch starken Erdbeschuß
durchlöcherter Fieseler Storch. Eine kleine schmächtige Frau
entsteigt der Maschine. Unter großer Mühe gelingt es ihr, einen
verwundeten, halb bewußtlosen Generaloberst der Luftwaffe aus dem
Flugzeug zu zerren.
Hinter aufgetürmten Betonbrocken suchen sie Schutz vor dem feindlichen
Feuer. Stunden scheinen inmitten des sie umgebenden Grauens zu vergehen,
bis endlich ein einsames deutsches Fahrzeug auftaucht und die beiden verlorenen
Gestalten aufnimmt.
Unter den Einschlägen der sowjetischen Artillerie fahren sie ihrem
befohlenen Ziel entgegen: zur Meldung bei Hitler im Führerbunker der
Reichskanzlei.
Hanna Reitschs Heimatort war das malerische Hirschberg in Schlesien, eingebettet
zwischen dem nahen Riesengebirge und den Bober-Katzbachbergen. Ihr Vater
war Augenarzt, ein sanfter, künstlerisch begabter Mensch und leidenschaftlicher
Cellospieler. Die Mutter, zu der Hanna Zeit ihres Lebens ein besonders
inniges Verhältnis hatte, entstammte einer Tiroler Adelsfamilie. Die
Kinder durften sich somit scherzhalber als "Tiroler-Preußen"
ausgeben .
Es war eine glückliche Kindheit. Zur Geborgenheit im Elternhaus trug
das allabendliche Cellospiel im Musikzimmer bei. Doch vollständig
wurde das Familienglück erst durch die Mutter mit ihrer stets heiteren
ausgeglichenen Art, gütig und klug, "liebend, geduldig und nie
ermüdend, tröstend und lehrend" wie Hanna sie in ihrer Autobiographie
FLIEGEN MEIN LEBEN (Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1951) beschreibt.
Sie verstand es ausgezeichnet, das Leben ihrer Kinder wunderbar zu bereichern,
ihnen früh das Erlebnis der Natur zu vermitteln, die Blumen, die Vögel,
die Sterne...
Hanna und ihre Geschwister wurden von der Mutter zu gerechtem und liebevollem
Denken gegen ihre Mitmenschen angehalten. "Freundlichkeit gegen jedermann,"
so hatte sie Moltkes Wort in ihr Tagebuch geschrieben, "ist die erste
Lebensregel... Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit sind der wahre Schutz
gegen die Kränkungen und die Zurücksetzungen dieser Welt."
Der Vater, der Arzt aus innerer Berufung und wegen seiner Freundlichkeit
und Hilfsbereitschaft bekannt und beliebt war, vermittelte den Kindern
ein ausgesprochenes Ehrgefühl. Ehre war für ihn ein Grundelement
menschlichen Daseins, eine echt preußische Einstellung.
Hanna war unter den Geschwistern das empfindsamste Kind, dazu lebhaft und
phantasiebegabt. Schon früh reizte es die spätere Fliegerin,
Höhen aufzusuchen. Statt am Pult pflegte sie ihre Schulaufgaben oft
in der Krone eines Baumes zu machen. Sie war sportlich und schwindelfrei.
Hanna lernte leicht, aber sie war nie eine Musterschülerin. Sie liebte
ihre Schule, die Lehrer und ihre Mitschülerinnen, besonders ihren
Musiklehrer Johl, der ihnen ein Schatzkästlein schönster Lieder
vermittelte. So ergänzten sich Schule und Elternhaus vortrefflich.
Und noch eines lehrten Schule wie Elternhaus: Die Liebe zur Heimat und
zum Vaterland.
Durch den Studienaustausch mit fremden Ländern förderten die
Eltern bei ihnen Aufgeschlossenheit und Unvoreingenommenheit. Aber gerade
im Ausland sollten sie die Echtheit ihre Liebe zur ihrem Vaterland erproben.
Wegen ihrer Lebhaftigkeit und ihres Übermutes erhielt Hanna in der
Schule manchen Verweis, der ins Klassenbuch eingetragen wurde. Als sie
nach der Verleihung des Eisernen Kreuzes später zum Ehrenbürger
von Hirschberg gemacht und dabei den Schülern als Muster an Fleiß
und Betragen hingestellt wurde, fanden neugierige Schülerinnen zu
ihrem Ergötzen diese Verweise beim Durchblättern der alten Bücher.
Doch die Schule hatte Humor. Die leidigen Blätter wurden aussortiert
und ihr gesondert zur Erinnerung überreicht.
Märchen und Naturbeobachtungen, gepaart mit kindlicher Phantasie,
hatten in Hanna früh den Wunsch genährt, Missionsärztin
zu werden, und zwar eine fliegende. Ihre Eltern hofften, daß sich
diese Absicht mit der Zeit verflüchtigen würde. Doch der Wunsch
zu fliegen wuchs weiter in ihr bis zu sehnsüchtigem Verlangen, das
sie nie mehr losließ.
Ihr Vater versucht es mit einem kleinen Trick. Er verspricht ihr, wenn
sie bis zum Abitur kein Wort mehr vom Fliegen erwähnt, so kann sie
zur Belohnung an einem Segelflugkurs in Grunau teilnehmen. Die heimliche
Hoffnung ihres Vaters geht nicht in Erfüllung. Hanna zeigt schon in
der Tertia, daß sie über eine ungewöhnliche Selbstdisziplin
und Zielstrebigkeit verfügt. Die "Geistlichen Übungen"
von Ignatius von Loyola fallen ihr in die Hände, und mit ihrer Hilfe
geht sie mit jugendlichem Eifer daran, ihren Willen zu meistern. Sie lernt
auch zu schweigen.
Als sie das Abitur bestanden hat, will ihr Vater ihr zur Belohnung eine
goldene Uhr schenken. Doch Hanna weist seine Uhr zurück und erinnert
ihn an sein Versprechen. Vor Beginn ihres Studiums geht sie, dem Wunsch
ihrer Eltern entsprechend, auf die Kolonialschule nach Rendsburg, dicht
am Ufer des Kaiser-Wilhelm-Kanals. Eine Missionsärztin mußte
auch diese praktische Seite ihrer Aufgaben kennen.
Nach allerlei drolligen Erlebnissen - sie hat z.B. alles mögliche
Viehzeug, darunter auch angriffslustige Schweine zu versorgen - geht in
den Herbstferien endlich ihr heißer Wunsch in Erfüllung: Ein
Lehrgang an der Segelflugschule in Grunau. Auf dem Galgenberg steigt sie
unter der Leitung von Pit van Husen zum ersten Mal auf den offenen Sitz
einer "Grunau 9".
Hanna, nur 1.54 m groß und kaum 45 kg schwer, wird von den umstehenden
Jungen mit manchem Spottwort bedacht. Und beim ersten Versuch geht alles
schief. Zuerst zieht sie die Kiste zu steil nach oben. Dann, um ihre "Himmelfahrt"
auszugleichen, wieder zu steil nach unten. Es gibt eine unsanfte Landung.
Die Gurte reißen, doch zu ihrem großen Glück war wenigstens
die Kiste heil geblieben. Ein Mädchen sollte lieber hinterm Kochtopf
bleiben, johlen die Jungen. Das konnte sie noch überstehen. Aber der
Anpfiff von Pit van Husen wegen ihres Ungehorsams läßt sie zusammenzucken:
"Untauglich zum Fliegen, drei Tage Startverbot!" Bis zum Abend
ist sie völlig zerknirscht. Aber dann regt sich der Trotz. Sie wird
es ihnen schon zeigen!
In der schier endlosen folgenden Nacht wird ihr bewußt, daß
beim Fliegen oberstes Gebot ist, alle Regeln mit peinlichster Genauigkeit
zu befolgen. Nur dieser ihr in Fleisch und Blut übergegangenen Regel
hat sie es zu verdanken, daß sie auch später im Krieg selbst
die waghalsigsten Experimente überlebt. Doch zunächst muß
etwas geschehen, um dem aufgebrachten Pit van Husen zu beweisen, daß
es ihr mit dem Fliegen blutiger Ernst ist. In ihrem Zimmer sucht sie nach
einem Stock, der als Steuerknüppel dienen kann. Mit dessen Hilfe übt
sie im Bett Stunde um Stunde die für den Flug notwendigen Steuerbewegungen,
bis sie diese wie im Schlaf beherrscht.
Ihre nächtlichen Exerzitien zahlen sich aus. Wenig später starten
die Lehrgangsteilnehmer zur A-Prüfung. Hannas Flug wird ein voller
Erfolg. Dreißig Sekunden setzt die Prüfung voraus. Sie war 39
Sekunden in der Luft geblieben. Dusel! Reiner Zufall! witzeln ihre männlichen
Mitschüler wieder. Aber als sie noch einmal fliegen darf, vergeht
ihnen der Spott. Aus 18 Männerkehlen erklingt das "huah, huah"
- Prüfung bestanden!
Wolf Hirth, der Altmeister des Segelflugs, hatte Hanna nach ihrem anfänglichen
Pech vom Lehrgang aussperren wollen. Doch jetzt will er sich dieses Mädel
einmal anschauen. Zur Belohnung für einen unter seinen Augen gelungenen
Start läßt er sie noch einmal von einer höheren Stelle
starten. Wieder etwas länger in der Luft! Und nun lernt sie unter
seiner Leitung die für die B-Prüfung erforderlichen flachen,
steilen und S-Kurven. Wolf Hirth ist beeindruckt von ihrer Fähigkeit
zur Konzentration. Konzentration macht die besten Flieger! Hanna verschweigt
ihm allerdings noch, daß sie diese Gabe den Anleitungen von Loyola
und ihren beharrlichen nächtlichen Übungen verdankt. Wie zu erwarten,
schafft sie bald auch die C-Prüfung, bei der mindestens fünf
Minuten über Starthöhe im Aufwind zu segeln sind.
Bei einem ihrer nächsten Flüge bleibt sie über 20 Minuten
in der Luft. Um dem nächsten Schüler Zeit zu sparen, landet sie,
entgegen der Vorschrift, auf dem Landeplatz statt auf der Zielwiese. Wieder
gibt es, diesmal eine mit Lob gemischte Rüge: "Disziplin muß
sein," sagt Wolf Hirth, als er Hanna leicht am Ohr zupft. "Doch
rein fliegerisch war die Sache einwandfrei."
Ein neues Flugzeug, der Stolz der Schule, ist nur für Wolf Hirth und
die Fluglehrer vorgesehen. Doch Hanna wird als erstem Schüler erlaubt,
so lange wie sie will mit ihm in der Luft zu bleiben. Es werden fünf
Stunden! Glückwünsche und Blumen treffen im elterlichen Haus
ein. Hanna ist voller Jubel. Aber am Abend findet sie einen Brief ihrer
Mutter auf ihrem Bett. "Bist Du Dir voll Dank bewußt, daß
es die Gnade des Glücks gewesen ist, die Dir den Erfolg schenkte?"
Zuerst kam der Trotz auf. Wieso "Gnade des Glücks", nachdem
sie Wind und Regen, Kälte und Schnee hatte durchstehen müssen?
Doch je mehr sie über die Zeilen ihrer Mutter nachdenkt, um so mehr
erkennt sie den Sinn ihrer Worte. Ja, der Wind war ihr Glück gewesen.
Und zu dem berechtigten Stolz gesellt sich ein Gefühl der Dankbarkeit
und Bescheidenheit.
Als zukünftige fliegende Ärztin in Afrika, überzeugt sie
ihre Eltern, muß sie auch das Motorfliegen beherrschen. Ihre Eltern
respektieren zwar ihren Wunsch, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Aber sie möchten vermeiden, daß ihre Tochter zu einer oberflächlichen
Rekordjägerin wird. Die Kosten des Lehrgangs, das ist die Bedingung,
muß sie von ihrem Studienwechsel bestreiten!
Sie meldet sich in Berlin-Staaken an, einer der drei in Deutschland existierenden
Sportfliegerschulen. Wieder ist sie das einzige Mädchen unter Männern,
die fast alle schon im Beruf stehen: Direktoren, Kaufleute, Ingenieure,
und auch der bekannte Schauspieler Matthias Wiemann, der ihr ein echter
Fliegerkamerad wird.
Typisch für Hanna, will sie mit ihrer Begeisterung nicht nur das Motorfliegen
beherrschen, sondern auch den Motor, das Herz des Flugzeugs, bis in alle
Einzelheiten verstehen. Immer wenn nicht geflogen wird, ist sie in der
Werkstatt bei den alten erfahrenen Motorwartmeistern. Dumme Frager, dazu
noch eine Frau, sind in wenigen Werksbetrieben gern gesehen. Aber Hanna
läßt sich nicht einschüchtern, und zum Dank für alles
Gelernte hilft sie die Flugzeuge putzen.
Eines Tages stellt sie der Werkmeister auf die Probe, ob sie wirklich all
den technischen Kram gelernt hat und sich auch vor schmutziger Arbeit nicht
bange macht. Sie soll einen alten, nicht mehr verwendbaren Motor auseinandernehmen.
Gesagt, getan. Aber am Sonntag, als die Werkstatt verlassen ist, setzt
sie sich daran, den Motor wieder heil zusammenzubauen. Als hätte sie
eine Prüfung in Anatomie abzulegen, hatte sie beim Zerlegen des Motors
fortlaufend Skizzen angefertigt. Die Männer, die am Montag früh
ihr Werk sehen, schütteln voll Staunen den Kopf. Nach dieser Leistung,
bei der sie sich die Hände blutig gerissen und über und über
mit Öl und Schmutz bedeckt hatte, ist sie einer der ihren geworden.
Kein Sonntagsflieger, sondern ihr Kamerad!
Sie beläßt es nicht bei dieser praktischen Unterweisung. Nebenher
verschlingt sie alles an Fachliteratur, was ihr über Motoren und Motorflugzeuge
in die Hände fällt. Es macht ihre Fortschritte im Fliegen mühelos
und leicht. Anfangs fliegt ihr Fluglehrer, Otto Thomsen, noch am Doppelsteuer
mit. Auch dieser Lehrer geht nicht gerade sanft mit ihr um. Doch Hanna
lernt ihn als hervorragenden Ausbilder schätzen. Zur Erreichung des
Lehrgangszieles ist eine harte Schule notwendig.
Der Tag zum Start für ihren Höhenprüfungsflug kommt. Die
alte "Klemm", mit einem Motor von ganzen 20 PS ausgestattet,
braucht für das Klettern auf die vorgeschriebene Höhe von 2.000
m allein schon eine runde Stunde. Hanna ist alles andere als eine Sportfliegerin,
der es nur um Ruhm und Erfolg geht. Die Schilderung ihres Höhenerlebnisses
zeugt von ihrem Feingefühl, ihrer Naturliebe und ihrer Achtung vor
Gottes Schöpfung. Freude und Dankbarkeit mischen sich mit Demut. Während
ein anderer Schlag von Fliegern zu überheblichem Prahlen neigt, wächst
bei ihr die Ehrfurcht im Blick auf die Weite des Himmels und nach unten
auf unsere schöne Erde.
Für ihr weiteres Leben stimmt Wolf Hirth mit ihren Eltern überein,
daß Fliegen kein Beruf für sie ist und daß sie ihr Medizinstudium
fortsetzen soll. Er gibt ihr bei einer Aussprache eine Aufgabe, die sich
einmal für sie als wahres Himmelsgeschenk erweisen soll. Wegen eines
Beinverlustes hatte Wolf Hirth sich eingehend mit den Funktionen des Oberschenkels
und des Kniegelenks befaßt. Über dieses Thema soll Hanna einen
medizinischen Vortrag halten, ehe er ihr die Erlaubnis gibt, wieder zu
fliegen. Da es ihr glühender Wunsch ist, weiter zu fliegen, setzt
sie die ganze Nacht daran, alle greifbaren Bücher durchzuackern und
diesen Stoff zu beherrschen.
Auf der Fahrt nach Grunau will Wolf Hirth sie über das aufgetragene
Thema prüfen. Aber irgendwie werden die beiden tief in ein Gespräch
über Flugprobleme verwickelt. Das medizinische Pensum ist völlig
vergessen.
In Grunau darf sie dann den ganzen Vormittag fliegen. Und hier erlebt sie
wieder, nachdem sie auch den Rausch des Motorfluges schätzen gelernt
hatte, die Erhabenheit, das einzige Gefühl des Segelflugs, das Einssein
mit der Natur, den Sieg über die Schwere, die man sich bei diesem
Vogelflug "Meter um Meter erkämpfen muß".
Zu ihrem zweiten medizinischen Semester soll Hanna sich auf Wunsch ihres
Vaters in Kiel einschreiben lassen, wo auch ihr Bruder als Fähnrich
bei der Marine steht. Weil die Kieler Fakultät sehr überlaufen
ist, müssen die Studenten sich vor der Zulassung einer Prüfung
in der Anatomie unterziehen. Hanna hatte im ersten Semester absolut nichts
für ihr Studium getan. All ihre Beteuerungen, daß sie in Kiel
wegen völliger Unkenntnis mit Glanz durchfallen würde, helfen
nichts. Ihre Eltern wollen es ihr einfach nicht abnehmen, daß sie
so unvorbereitet sein könnte. Das Versäumte nachzuholen, bleibt
keine Zeit mehr. Zerknirscht denkt sie daran, wie sie das Vertrauen ihrer
Eltern mißbraucht und nur ans Fliegen gedacht hatte.
Mit Zittern und Bangen, von Alpträumen verfolgt, stellt sie sich der
Prüfung. "Die Schande anständig zu tragen, schien mir jetzt
wichtiger als diese Prüfung zu bestehen," schreibt sie. Nicht
wenige der Prüflinge fallen durch. Andere werden unsicher, vom Spott
des prüfenden Professors begleitet. Endlich hört Hanna ihren
Namen. All ihre Willenskraft zusammennehmend, tritt sie ruhig und sicher
vor. Der Professor mißdeutet ihre Ruhe und hält sie für
den Beweis von Wissen. Freundlich sieht er sie an und stellt seine erste
Frage. Hanna fällt aus allen Wolken als sie ihn hört: "Sie
übernehmen den Oberschenkel!" Glück muß der Mensch
haben.
Auf ihr Telegramm kommt die Antwort der Eltern: "Wir haben es gewußt."
Sie hatten keine Ahnung wie sehr diese Worte ihre Tochter bedrücken.
Sie hatte ihre Güte und Großzügigkeit in Anspruch genommen
und ihnen um ein Haar Schande gebracht.
Im Mai 1933 ist Hanna während ihrer Semesterferien wieder in Hirschberg.
Wolf Hirth will sie in den Flug nach Instrumenten einführen. Blindflugübung!
Wieder geht Hanna mit ihrer unbändigen Lernbegierde daran, zunächst
rein theoretisch mit Hilfe eines "Kartenspiels" alle Möglichkeiten
des die Fluglage angebenden Wendezeigers wie im Traum zu beherrschen.
Als der Tag kommt, ist der Himmel sonnenklar und ruhig. Vergebens sucht
sie den notwendigen Aufwind. Mal findet sie nur schwachen Aufwind, mal
die Kiste niederdrückenden Abwind. Plötzlich fühlt sie sich
in einem starken Aufwindfeld. Mit drei bis vier m/Sek. wird sie nach oben
gezogen. Auf 900 m gestiegen, entdeckt sie, einmal von den Instrumenten
wegblickend, über sich eine riesige, dunkel dräuende Gewitterwolke.
Die Vorschrift für jeden Anfänger lautet, unter diesen Umständen
sofort den Flug abzubrechen. Doch im Vertrauen auf ihre neuen Fertigkeiten
setzt sie den Flug fort. 1.000 .., 1.100 ... 1.200 m ... bald wird sie
von den ersten Fetzen der Wolke aufgenommen. Immer schneller geht es nach
oben mit 5 m, 6 m, bald 7 m Auftrieb pro Sekunde. Jetzt, bei gut 1.600
m Höhe glaubt sie sich außer Gefahr. Die Schneekoppe muß
nun unter ihr liegen.
Plötzlich ein wahres Trommelfeuer auf ihren Flügelflächen.
Ein dramatischer Kampf mit den entfesselten Elementen entbrennt. Durch
schon halb vereiste Fenster sieht sie Regen und Hagelkörner auf sie
herabprasseln. Bei dem immer rasender werdenden Aufwind ist sie bald bis
3.000 m hochgerissen. Die Instrumente versagen. Alles ist vereist. Plötzlich
geht,s in jähem Sturzflug nach unten. In ihrem Sommerkleid schlottert
sie an allen Gliedern. Mit Gewalt bezwingt sie ihre Angst in dem brodelnden
Inferno. Auf einmal durchstößt sie den Rand der Wolke und hat
wieder freie Sicht.
Es ist schon spät am Nachmittag, als sie mit ihrem "Grunau-Baby"
auf einer Skiwiese landet. Ihren Gewitterflug hatte sie mit einem Riesenglück
heil überstanden. Doch jetzt kommt das zweite Gewitter auf sie zu.
Wolf Hirth brüllt sie am Telefon an, daß ihr der Flugzeugführerschein
entzogen werden soll, weil sie ohne Erlaubnis in der Sperrzone nahe der
tschechischen Grenze gelandet war.
Hanna ist wie zerschmettert. Fliegen ist ihr Leben, und ohne Fliegen zu
dürfen fühlt sie sich wie zum Tode verurteilt. Doch als Wolf
Hirth sie in der Nacht mit seinem Wagen abholt, ist das Gewitter verrauscht.
Er ist froh, daß sie die Kiste heil heruntergebracht hat. Sie ist
so beglückt über diese Wendung, daß ihr unfreiwilliger
neuer Höhenweltrekord ihr unwesentlich erscheint.
Kurze Zeit später wird Wolf Hirth zum Leiter der neuen Segelfliegerschule
auf dem Hornberg bei Schwäbisch Gmünd ernannt. Hanna fürchtet
um das Ende ihrer Fliegerei, da sie ohne ihren Schutzpatron und ohne Geld
nicht weitermachen kann. Doch wieder einmal kommt ihr das Glück zu
Hilfe. Wolf Hirth erwirkt bei ihren Eltern die Erlaubnis, ein Studiensemester
auszusetzen und als Fluglehrer mit ihm zu gehen.
Ihre Stellung als Fluglehrer ist keine leichte. Hat sie doch als Mädchen
eine Schar erwachsener Männer auf die C-Prüfung vorzubereiten.
Aber sie findet eine Lösung für das männliche Mißtrauen
gegen einen weiblichen Fluglehrer. Statt als Autorität aufzutreten,
macht sie den Unterricht zur Gemeinschaftsarbeit. Alle werden gleichmäßig
mitbeteiligt. Am besten kommen natürlich Hannas Erfolge an, und so
lernen ihre Schüler von ihren Erlebnissen, auch wenn diese von einer
Frau herrühren.
Als Deutschland aufgrund des Versailler Diktats das Motorfliegen verboten
worden war, entdeckte Oskar Ursinus, mit der Sehnsucht zum
Fliegen im Herzen, die Rhön als ein ideales Segelfluggebiet. Auf der
Wasserkuppe treffen sich junge Segelflieger Sommer für Sommer. Mit
hohem Idealismus bringen sie Opfer an Zeit und Geld. Fliegen ist ihnen
wichtiger als ihre Karriere, und manch einer findet bei den ersten halsbrecherischen
Flügen den Tod.
Im Sommer 1933 nimmt Hanna zum ersten Mal am Rhönwettbewerb teil.
Ihr "Grunau-Baby" ist keine Konkurrenz für die Leistungsmaschinen
der anderen Wettbewerber. Auch das Gelände ist ihr unbekannt. Ihre
Flüge auf der Wasserkuppe werden zu einer einzigen Pechsträhne.
Bei der Preisverteilung ist sie mit am Schwanz, und zum großen Gelächter
aller schenkt die Preiskommission ihr - eine Küchenwaage und einen
Fleischwolf!
Trotzdem endet ihr Rhönerlebnis auf einer positiven Note. Der "Segelflugprofessor"
Georgii fragt sie nach der Preisverteilung, ob sie an seiner geplanten
Südamerikaexpedition teilnehmen wolle. Der Professor und Oskar Ursinus
waren von Hannas Durchhaltevermögen beeindruckt. Obwohl dauernd "abgesoffen",
war sie doch immer wieder gestartet. Und "nicht der Sieg, sondern
der Geist entscheidet beim Segelfliegen."
Für die Südamerikafahrt muß sie aus eigener Tasche 3.000
RM beisteuern. Sie greift daher auf ein früheres Angebot der UFA zurück,
als "double" bei einem Segelfliegerfilm mitzuwirken. Die Aufnahmen
sollen in Rossitten gemacht werden. Eine Anfängerin darstellend, findet
sie ihre Rolle einfach herrlich. Denn hier darf sie einen Bruch nach dem
andern machen, was sie sich sonst nie hätte erlauben dürfen.
Darüber hinaus kann sie ihre Freizeit für private Flüge
benutzen. Und welch eine Gelegenheit! Einmal bleibt sie dabei 9, ein andermal
11 Stunden und 20 Minuten in der Luft. Zwei neue Frauenweltrekorde!
Am 3. Januar 1934 startet die Expedition von Hamburg aus. Professor Georgii
hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Aufwindverhältnisse in Südamerika
zu erforschen. Daneben fällt der Expedition, ohne daß es im
Programm steht, eine andere wesentliche Aufgabe zu: Die Herzen der Menschen
in den angesteuerten Ländern für den Segelflug und für Deutschland
zu gewinnen. Die deutschen Flieger und ihre Leistungen finden bei den temperamentvollen
Südländern eine wahrhaft überwältigende Anteilnahme.
Am meisten interessiert sich das Publikum für Kunstflüge. Obwohl
es Hanna nicht liegt, mit dieser Kunst zu glänzen, fügt sie sich
der Rolle, ihre Loopings und Wendungen zum Entzücken der Zuschauer
vorzuführen.
Über Sao Paulo gibt es um Haaresbreite ein Fiasko. Sie hatte sich
zu früh ausgeklinkt. Zu ihrem Entsetzen gerät sie in einen Abwind,
der sie dicht auf das unter ihr liegende Häusermeer mit seinen von
Menschen und vom Verkehr wimmelnden Straßen herunterdrückt.
Als sie schon Tote und Verletzte bei einer Straßenlandung befürchtet,
entdeckt sie im letzten Moment ein Sportfeld. Aber auf diesem Feld ist
gerade ein Fußballspiel in vollem Gange. Statt der anrauschenden
Maschine aus dem Wege zu springen, halten Spieler und Zuschauer ihren Tiefflug
für eine kontrollierte Schau. Begeistert winken sie ihr zu. Schweißtriefend
vor Schreck reißt sie das Fenster auf. Aus voller Kehle brüllt
sie ihr cuidado, cuidado, und in jähem Begreifen werfen die Spieler
sich im letzten Augenblick auf die Erde. Mit klopfendem Herzen kann sie
ihren Segler aufsetzen.
Auch die argentinische Regierung läßt der Expedition jede erdenkliche
Hilfe zukommen. Auch hier ist die Begeisterung ungeheuer, besonders als
Wolf Hirth mit 76 Loopings einen neuen Rekord aufstellt. "Alemana"
rufen Kinder und Erwachsene bewundernd, als sie sich die Segelflugzeuge,
in denen manch einer einen versteckten Motor vermutete, nachher anschauen:
"Die Deutschen können alles!"
Südamerika hat Hannas Wunsch noch verstärkt, ihr Leben der Fliegerei
zu widmen. Auf der Heimreise steht sie, diesem Gedanken nachhängend,
mit Prof. Georgii an der Reling. Sie fällt aus allen Wolken, als sie
ihn plötzlich sagen hört: "Jetzt lassen wir Sie aber nicht
mehr los. Sie gehören zu uns nach Darmstadt an die Forschungsanstalt."
Bis Mai 1945 gehörte Hanna Reitsch dieser Anstalt an. Außerhalb
ihrer offiziellen Aufgaben gelingt ihr in den ersten Wochen ihres Darmstadtaufenthalts
noch ein Streckenflug von Griesheim nach Reutlingen. Mit 160 km ein neuer
Frauenweltrekord!
Fortsetzung hier . . .