"Die Rahmengeschichte is "fiction"; die Argumente beider Seite sind natürlich nachprüfbar." Jürgen Graf, Fax sent August 3, 1996


I Prolog

Montag, 9. Januar

Im Gymnasium von Sanningen, Süddeutschland, hat die Abiturklasse Margarete Lämples heute, am 9. Januar 1995, ihre erste Geschichtsdoppelstunde im neuen Schuljahr. Sanningen ist ein kleines, den meisten wohl kaum bekanntes Städtchen, und entsprechend klein sind die Klassen. So zählt die Abiturklasse, der wir uns nun zuwenden wollen, nur gerade zehn Schülerinnen und Schüler: Arturo, Claudia, Hanspeter, Ingrid, Klara, Marietta, Max, Robert, Sabine und Willi.

Klassenlehrerin Margarete Lämple, 43, Fächer: Latein, Deutsch, Englisch und Geschichte, ist trotz ihrer Strenge leidlich beliebt; sie gilt als engagierte und idealistische Pädagogin.

Margarete Lämple: Ich begrüsse euch alle herzlich zur ersten Geschichtslektion im neuen Schuljahr.

Nachdem wir vor Weihnachten die Oktoberrevolution, den italienischen Faschismus, die Weltwirtschaftskrise und die Weimarer Republik behandelt haben, werden wir uns nun der am heftigsten diskutierten und düstersten Periode der Zeitgeschichte zuwenden, nämlich dem Themenkomplex Aufstieg des Nationalsozialismus, Drittes Reich, Zweiter Weltkrieg und Holocaust.

In früheren Jahren habe ich mich bei diesen Themen immer streng an die zeitliche Reihenfolge gehalten und folglich mit dem Aufstieg der Nazipartei und der Machtergreifung Hitlers begonnen, doch dieses Jahr will ich die Sache einmal anders anpacken.

Wir werden jetzt einen Artikel lesen, der aus der unmittelbaren Nachkriegszeit stammt. Sein Verfasser ist der später berühmt gewordene, vor nicht allzu langer Zeit verstorbene Philosoph Robert Jungck, ein Sohn jüdischer Eltern. Jungck hat im Herbst 1945 die ostdeutschen Vertreibungsgebiete besucht und die dort herrschenden Verhältnisse in einer Schweizer Zeitung recht ungeschminkt geschildert. Wie ihr wisst, musste Deutschland nach dem verlorenen Krieg grosse Gebiete im Osten an Polen abtreten, und der grösste Teil der deutschen Bevölkerung wurde unter teils sehr inhumanen Bedingungen ausgesiedelt... Hier habt ihr den Text; wie ihr seht, stammt er aus der Zürcher Weltwoche vom 16. November 1945.

Marietta: Entschuldigen Sie, aber warum zäumen Sie das Pferd vom Schwanz auf? Warum beginnen wir nicht mit dem Jahr 1933?

M. Lämple: Das sollt ihr nachher selbst herausfinden. Bitte lest!

(Die Schüler lesen den Text, aus dem wir hier nur einige Auszüge zitieren. Dem Interessierten wird die Weltwoche Anschrift: Edenstr. 20, 8021 Zürich auf Verlangen gerne eine Kopie des vollständigen Artikels zusenden.)

Wer die polnische Zone verlassen hat und in russisch okkupiertes Gebiet gelangt, atmet geradezu auf. Hinter ihm liegen leergeplünderte Städte, Pestdörfer, Konzentrationslager, öde, unbestellte Felder, leichenbesäte Strassen, an denen Wegelagerer lauern und Flüchtlingen die letzte Habe rauben.

All das und alles, was in den kommenden Zeilen beschrieben wird, ist leider wahr (...) Es ist wahr, dass auf dem Bahnhof von S. sämtliche Flüchtlinge regelmässig ausgeraubt werden, dass die Insassen nackt weiter gegen Westen reisen müssen. Es ist wahr, dass in weiten Gegenden Schlesiens kein einziges Kind mehr am Leben ist, weil sie alle verhungern mussten oder erschlagen wurden (...) Und es ist wahr, dass eine Selbstmordwelle durch das Land geht. In einzelnen Orten hat sich ein Zwölftel, in anderen bereits ein Zehntel oder sogar ein Fünftel der Bevölkerung ums Leben gebracht. Es ist wahr, dass in den sogenannten Arbeitslagern Sosnowice und Centoschlowitz Insassen nächtelang bis zum Hals im eiskalten Wasser stehen müssen und dass man sie bis zur Bewusstlosigkeit schlägt (...) Seit der deutschen Kapitulation hat es in Breslau weder Fett noch Fleisch gegeben. Die Bewohner machen Proviantexpeditionen ins Hinterland der Stadt. Sind sie glücklich genug, ein paar Rüben und Kartoffeln zu bekommen, so wird ihnen das meist bei der Rückkehr schon in den Vororten von den polnischen Milizsoldaten wieder abgenommen. Dass die Sterblichkeit unter diesen Umständen enorm ist, kann nicht wundernehmen. Polnische Beamte, die übrigens infolge der Unordnung in der Breslauer Stadtverwaltung selbst seit Monaten keine Zahlungen erhalten haben, geben ganz offen zu, dass sie hoffen, durch die Hungerdezimierung der deutschen Bevölkerung werde bis Weihnachten das gleiche Ziel erreicht sein, das ursprünglich durch Deportationen hatte erreicht werden sollen.

Mindestens ebenso schlimm wie den Hunger empfinden die noch in dieser Zone lebenden Deutschen den Mangel an Sicherheit und Recht. Es gibt keine Instanzen, an die ein Bauer, der von Plünderern überfallen wurde, sich wenden könnte, es gibt keine Polizei, die ihn schützt, keine Richter, die ihm Recht verschaffen könnten. Jedermann muss stündlich und täglich Gewaltattacken auf Gut und Leben erwarten, ohne dass ihm eine Möglichkeit legaler Gegenwehr gegeben wäre (...) Wenn alle diejenigen, die Hitler und Mussolini unter grossen Opfern bekämpften, um eine bessere Welt aufzubauen, es zulassen, dass ihr Kampf jetzt von Rowdies und Chauvinisten ausgenützt und beschmutzt wird, dann sehen wir keine grosse Hoffnung für die Zukunft (...) Auch wir alle werden "Mitschuldige" sein, wenn wir nicht täglich und stündlich die Schandtaten, die heute im Namen der Demokratie und der Freiheit begangen werden, enthüllen. Nichts anderes wollen diese ersten Zeilen aus dem Land der Vogelfreien, aus dem Totenland jenseits der Oder.

M. Lämple: Marietta hat vorher gefragt, weshalb ich das Pferd vom Schwanz aufzäume und den Themenkreis Naziregime/2. Weltkrieg mit einem Text aus dem Jahre 1945 beginne. Wer von euch will nun ihre Frage beantworten?

Hanspeter: Wir sollen herausfinden, wie es so weit kommen konnte, dass die Deutschen nach dem Krieg einen grossen Teil ihres Landes abtreten mussten und selbst zu Gejagten wurden.

M. Lämple: Kluger Junge. Die Antwort auf diese Frage erwarte ich von euch. Wie üblich bilden wir zwei Arbeitsgruppen. Ihr habt zwanzig Minuten Zeit.

(Die Klasse bildet zwei Arbeitsgruppen. Ingrid, Marietta, Robert, Arturo und Willi setzen sich ohne Absprache sofort zusammen. Klara, Hanspeter, Claudia, Sabine und Max bilden die zweite Gruppe. Nach zwanzig Minuten unterbricht die Lehrerin die an beiden Tischen hin und herwogende Diskussion.)

M. Lämple: Gruppe eins soll bitte ihre Ergebnisse präsentieren.

Arturo: Ach, lassen Sie doch bitte zuerst die anderen reden.

M. Lämple: Von mir aus. Also Gruppe zwei, bitte.

Max: Wir sind uns nicht ganz einig.

M. Lämple: Dann zuerst dein persönlicher Kommentar, Max.

Max: Also, ich finde es sehr mutig und anständig von dem Juden Robert Jungck, der durch die Hitlerdiktatur und den Holocaust vielleicht selber Verwandte verloren hat, die an den Deutschen geschehenen Grausamkeiten so deutlich anzuprangern. Meine Hochachtung vor dem Mann.

Sabine: Meiner Ansicht nach sollte man überhaupt mehr über die Vertreibung und die damals geschehenen Brutalitäten reden. Was wir Deutsche getan haben, wird uns tagtäglich unter die Nase gerieben, aber von den Schandtaten der anderen hört man viel zu selten. Darum finde ich es gut, dass Sie uns diesen Artikel gegeben haben.

Hanspeter: Ich habe da Bedenken. Natürlich war es schlimm, was damals mit den Deutschen östlich von Oder und Neisse geschah, aber man darf es doch nicht mit dem millionenfachen, systematischen Mord an den Juden gleichstellen. Ausserdem hatten die Polen nach all dem, was sie während des Krieges durchleiden mussten, Grund genug, die Deutschen zu hassen. Leider mussten dann Unschuldige die Suppe auslöffeln, die ihnen die Naziregierung eingebrockt hatte.

Klara (eisig): Was Hanspeter da sagt, geht noch nicht weit genug. Ich protestiere dagegen, dass wir uns mit diesem Artikel abgeben müssen, Frau Lämple.

M. Lämple: Hört, hört, Klara protestiert. Und warum, bitte?

Klara: Weil Sie mit solchen Texten nur den Ewiggestrigen Munition liefern, welche das den Deutschen nach dem Krieg angeblich zugefügte Unrecht zynisch gegen die Greuel der Nazis aufrechnen. Ich weiss zwar, dass Sie persönlich, Frau Lämple, nazistischer Sympathien unverdächtig sind...

M. Lämple: ... danke für den Persilschein...

Klara: ... aber es gibt in unserer Klasse leider den einen oder anderen, der eine bedenklich reaktionäre, nationalistische Einstellung hat. Gerade in einer Zeit wie der heutigen, wo sich die braunen Ratten wieder frech aus ihren Löchern wagen, wo in diesem Land tagtäglich Asylbewerber und Asylbewerberinnenheime brennen und überall in Deutschland die Ausländer und Ausländerinnenfeindlichkeit schaurige Orgien feiert, sollten Sie als verantwortungsbewusste, antifaschistische Frau nicht noch Wasser auf die Mühlen der Unverbesserlichen leiten, die dreist behaupten, die anderen hätten ja genau so Verbrechen begangen wie die Deutschen.

Claudia: Haben sie aber. Das steht ja in diesem Artikel.

Klara: Die vereinzelten Exzesse, die sich nach dem Krieg abgespielt haben mögen, lassen sich in keiner Weise mit dem eiskalt geplanten, fliessbandmässig durchgeführten Völkermord der Nazis an den Juden vergleichen, Zudem hat Hitler ja den Krieg vom Zaun gebrochen und die Welt in Brand gesteckt. Das Aufwärmen von angeblichen Ausschreitungen gegen Deutsche nach dem Krieg sichert Ihnen zwar Beifall von der falschen Seite, ist aber volkspädagogisch gefährlich.

M. Lämple: Deine Meinung, Claudia?

Claudia: Ich finde den Artikel gut. Verbrechen bleiben Verbrechen, auch wenn sie an Deutschen verübt werden. Dass die Vertreibungsgreuel nicht mit dem Holocaust auf eine Stufe gestellt werden dürfen, stimmt freilich schon.

M. Lämple: Vielleicht geruht Gruppe eins nun auch, uns ihre Ansicht mitzuteilen?

Arturo (langsam und höhnisch): Jawoll. Den Artikel finden wir alle ausgezeichnet, und die Verbrechen an den Deutschen sind in der Tat nicht mit dem Holocaust zu vergleichen, aber aus einem ganz anderen Grund, als die von der Gruppe zwei meinen.

M. Lämple: Ei, was du nicht sagst. Und was wäre dieser Grund?

Arturo: Den Massenmord an den Deutschen gab es. Den Holocaust gab es hingegen nicht!

M. Lämple (entsetzt): Bitte keine makabren Spässe, Arturo!

Klara (mit Grabesstimme): Ich habe es schon lange geahnt. Deine Bemerkungen nach dem Besuch von Schindlers Liste waren ja deutlich genug. Nun lässt du also die heuchlerisch aufgesetzte Maske des Biedermanns endgültig fallen und schlüpfst in die Rolle des geistigen Brandstifters. Du gehörst zu den Unverbesserlichen, welche die entsetzlichen Geschehnisse unter der Hitlerdiktatur leugnen.

Arturo: Moment mal, Spatzi. Wirklich geschehene Gewalttaten leugne ich keinesfalls. Es fiele mir beispielsweise nicht ein, zu leugnen, dass nach dem Mord an Heydrich Tschechen als Geiseln erschossen worden sind. Wo die Beweislage klar ist, gibt es nichts zu leugnen oder zu bestreiten. Auch stelle ich nicht in Abrede, dass mit den Juden Schlimmes geschehen ist. Ein Beispiel. Mein Vater kennt persönlich einen Juden, der zu Beginn des Krieges Luftwaffenoffizier war. Seine Abstammung war den Nationalsozialisten nicht bekannt. Er wurde dann von irgendeinem Lumpen verpfiffen und prompt nach Auschwitz geschickt. Vergast hat man ihn dort zwar nachweislich nicht, denn er ist ja heute noch am Leben, aber eine Schweinerei war das Ganze trotzdem (1). Solche Dinge verurteile ich natürlich. Nur soll man uns bitte keine Verbrechen in die Schuhe schieben, die wir nicht begangen haben.

Max: So, und was für Verbrechen, die wir nicht begangen haben, schiebt man uns denn in die Schuhe?

Arturo: Das, was man gemeinhin als "Holocaust" bezeichnet, also die Judenausrottung, besonders die angeblichen Gaskammermorde.

Klara (vor Wut kochend): Frau Lämple, sorgen Sie gefälligst dafür, dass diese schamlose faschistische Hetze im Klassenzimmer ein Ende nimmt, und zwar sofort. Wenn Arturo weiter hetzt, soll er nicht zum Abitur zugelassen werden.

M. Lämple (kühl): Wer zum Abitur zugelassen wird, entscheide ich mit meinen Kolleginnen und Kollegen, nicht du, Klara. Ich bin allerdings in der Tat auch entsetzt über Arturos uneinsichtiges Leugnen des Holocaust...

Arturo: Moment bitte. Wir haben doch vor einiger Zeit im Deutschunterricht den Unterschied zwischen "leugnen" und "bestreiten" behandelt. "Leugnen" heisst, etwas wider besseres Wissen in Abrede stellen; das Wort ist also mit "Lügen" verwandt. Wenn Sie mit mir über meine Ansichten zum Holocaust diskutieren, werden Sie aber rasch feststellen, dass ich von meiner Meinung felsenfest überzeugt bin. Ich "leugne" also den Holocaust nicht, sondern ich bestreite ihn in guten Treuen. Ob ich dabei recht habe oder mich irre, wird sich bestimmt herausstellen.

M. Lämple: Ich schätze dich als anständigen und ernsthaften Schüler, Arturo, und ich bin besorgt darüber, dass du offenbar raffinierten rechtsradikalen Rattenfängern auf den Leim gekrochen bist. Frage an alle anderen: Wie sollen wir auf Arturos Provokationen reagieren? Sollen wir ihn von der Schule weisen, wie Klara meint, oder sollen wir uns seine abstrusen Ansichten geduldig anhören und womöglich noch darüber diskutieren?

Claudia: Mit Zwang erreicht man gar nichts. Arturo würde sich dann als Märtyrer vorkommen, und er würde in seinen rechtsextremen Ansichten, die in der Klasse übrigens ein offenes Geheimnis sind, nur noch bestärkt.

M. Lämple: Ist auch meine Meinung. In einer freiheitlichdemokratischen Gesellschaft wie der unseren erinnert euch daran, dass wir im freiesten Staat der deutschen Geschichte leben , bekämpft man Irrtümer nicht mit Strafen, sondern mit Argumenten. Bei der Behandlung des Themas Holocaust werden wir Arturo die unwiderlegbaren Beweise für den Judenmord vorlegen, und er wird seinen Irrtum einsehen.

Arturo: Da bin ich aber gespannt. ðbrigens haben Sie da viel Arbeit vor sich, denn Sie müssen nicht nur mich davon überzeugen, dass es den Holocaust gab.

M. Lämple (irritiert): Was meinst du damit?

Arturo: Die halbe Klasse glaubt nicht mehr an Schwindlers Mist und Ihre Gaskammergeschichten, Frau Lämple! Die ganze Arbeitsgruppe eins glaubt nicht mehr daran!

M. Lämple (erschrocken): Stimmt das?

Robert, Willi, Ingrid und Marietta: Ja!

Klara (hysterisch kreischend): Hilfe! Ich bin in ein Nest brauner Ratten geraten!

M. Lämple (bleich): Mässige dich doch in deiner Ausdrucksweise, Klara. Die Sache ist freilich schlimm genug. Wir werden nicht umhinkommen...

(Die Pausenglocke läutet.)

M. Lämple: Wir werden nicht umhinkommen, uns eingehend mit dem Thema zu befassen. So, und jetzt verzieht euch in die Pause, und zwar dalli dalli. Nach diesem Schreck brauche ich einen Kaffee. Nein, ich brauche sogar zwei.

(Nach der Pause.)

M. Lämple: Ich habe mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und folgendes beschlossen: In den nächsten beiden Wochen lassen wir alle Geschichtsstunden ausfallen und machen dafür mehr Latein, Deutsch und Englisch. Heute in drei Wochen, am 30., beginnen wir dann eine Projektwoche, die ausschliesslich dem Thema Holocaust gewidmet ist, und holen den zuvor versäumten Geschichtsunterricht auf Kosten der anderen Fächer nach. Drei Geschichts, vier Englisch , fünf Deutsch und sechs Lateinstunden, das macht zusammen achtzehn Stunden, und wenn wir mit dem Thema nicht durchkommen, hängen wir in der folgenden Woche noch ein paar Lektionen an. Die Sache ist einfach zu ernst und muss restlos geklärt werden.

Für die nächsten beiden Wochen entfallen sämtliche Hausaufgaben in Deutsch, Latein und Englisch...

Die Klasse: Hurra!

M. Lämple: Freut euch bloss nicht zu früh, ihr kriegt Hausaufgaben, bis euch der Schädel brummt. Ihr müsst die Projektwoche gründlich vorbereiten. Die fünf Schülerinnen und Schüler, welche ein korrektes Geschichtsbild haben und den Holocaust nicht anzweifeln, müssen nämlich ihre Kameradinnen und Kameraden überzeugen.

Sabine: Und wo sollen wir das Material für diese MammutDiskussion so rasch hernehmen, bitteschön?

M. Lämple: Keine Sorge, das Material kriegt ihr von mir. Ich habe mich sehr intensiv mit dem Holocaust beschäftigt und darf behaupten, das Thema gründlich zu kennen. Wie ihr euch die Aufgabe dann einteilt, bleibt euch überlassen. Ihr seid ja an selbständiges Arbeiten gewöhnt.

Robert: Und wir?

M. Lämple: Ihr dürft euch natürlich auch vorbereiten, ja ihr sollt es sogar. Die Haltlosigkeit eurer Argumente wird sich dann rasch zeigen.

Klara (empört): Ich protestiere! Ich protestiere ganz energisch!

Willi: Dann protestiere mal hübsch, du Fledermaus! Wogegen protestierst du bloss diesmal wieder?

Klara: Wenn heute einer käme und verlangte die Einberufung eines wissenschaftlichen Kolloquiums zur Klärung der Frage, ob die Sonne sich um die Erde oder die Erde um die Sonne drehe er würde entweder verlacht oder für unzurechnungsfähig erklärt. Ernsthaft darüber zu diskutieren käme jedoch niemandem in den Sinn. Denn was noch zu Galileis Zeiten eine Glaubensfrage war, ist heute wissenschaftlich bewiesen und wird von keinem vernünftigen Menschen mehr angezweifelt. Ähnlich verhält es sich mit den Propagandisten der sogenannten Auschwitz oder HolocaustLüge: Ihre Behauptung, eine Judenvernichtung habe es nie gegeben, ist so offensichtlich falsch, dass sie einer ernsthaften wissenschaftlichen Debatte im Grunde gar nicht würdig ist (2). Wir sollten die rechtsextremen AuschwitzLeugner nicht dadurch aufwerten, dass wir mit ihnen diskutieren, als seien sie seriöse Gesprächspartner.

Robert: Einspruch, euer Ehren. Wenn jemand behauptet, die Sonne drehe sich um die Erde, wird er in der Tat verlacht oder ignoriert, aber niemandem fiele es ein, ihn vor Gericht zu stellen. Nun ist ja das sogenannte Leugnen der richtige Ausdruck wäre, wie Arturo festgehalten hat, "Bestreiten" des Holocaust in diesem unseren freiheitlichen Staate verboten und kann bestraft werden. Dies zeigt allein schon, dass etwas an der Sache oberfaul ist. Wäre der Holocaust wirklich eine offenkundige Tatsache, so könnte man die Zweifler und Bestreiter ja in einer öffentlichen Debatte, am besten am Fernsehen, widerlegen und der Lächerlichkeit preisgeben. Warum tut man dies nicht?

Ingrid: Denken wir an den Fall Günter Deckert...

Claudia: Das ist der Chef der NPD. Identifizierst du dich etwa mit diesem Ultranationalisten?

Ingrid: Ob ich mich mit ihm identifiziere, spielt im Moment gar keine Rolle. Deckert wurde zu einem Jahr bedingt verknackt, weil er in Mannheim 1991 einen Vortrag von Fred Leuchter übersetzt hatte...

Sabine: Wer ist denn das?

Klara: Ein amerikanischer Neonazi und angeblicher Hinrichtungsexperte!

Ingrid: Quatsch. Leuchter ist ein gänzlich unpolitischer Mensch, der Adolf Hitler kaum von Hannibal unterscheiden kann. Ferner ist er kein angeblicher Hinrichtungsexperte, sondern ein Hinrichtungsexperte. Seine Spezialität ist nämlich die Konstruktion und Reparatur von Hinrichtungsgeräten: elektrische Stühle, Todesspritzen, Galgen und auch Gaskammern, wie sie in manchen USBundesstaaten zur Exekution von Delinquenten verwendet werden.

Sabine: Und was hat dieser liebenswürdige Herr mit unserem Thema zu tun?

Ingrid: 1988 reiste Leuchter mit einem vierköpfigen Team nach Auschwitz und Majdanek, um die angeblichen Gaskammern der ersten wissenschaftlichen Untersuchung überhaupt zu unterziehen. Anschliessend verfasste er den sogenannten LeuchterBericht, auf den wir sicher noch zurückkommen werden. Diesem Bericht nach waren die als Gaskammern bezeichneten Räume keine solchen und hätten nicht als Gaskammern dienen können (3). 1991 fasste Leuchter seine Schlussfolgerungen bei einem Vortrag vor der NPD in Mannheim zusammen, wobei Deckert als ðbersetzer waltete. Aufgrund dieser ðbersetzung wurde er dann wegen angeblicher Volksverhetzung verurteilt.

Claudia: Und Leuchter selbst?

Willi: Leuchter sollte im Oktober 1993 als Gast bei Schreinemakers auftreten, wurde aber kurz vor Beginn der Sendung verhaftet. Offenbar bereitete die Aussicht auf sein Auftreten bestimmten Leuten Bauchgrimmen. Nach ein paar Wochen hat man ihn dann klammheimlich freigelassen und ins nächste Flugzeug nach Amerika gesetzt. Zurück zu Deckert. Beim Revisionsprozess wurde das Urteil, ein Jahr mit Bewährung, zwar bestätigt, aber der Richter liess in der Urteilsbegründung viel Verständnis für ihn durchblicken und bezeichnete ihn als ehrlichen Idealisten. Die Fortsetzung dürfte euch ja bekannt sein. Es setzte unverzüglich eine Pressehetze ein, als stünden die Neonazis unmittelbar vor der Machtübernahme. Politikaster aller Schattierungen zeigten sich "entsetzt". Folgerichtigerweise wurde das Urteil dann im Dezember 1994 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kassiert und nach Mannheim zurückverwiesen. Es besteht wenig Zweifel daran, dass Deckert bei dem für April angesetzten Revisionsprozess zu einer unbedingten Gefängnisstrafe verdonnert werden wird (4).

Marietta: Frau Lämple, wir haben doch bei Ihnen gelernt, dass die Gerichte im Rechtsstaat unabhängig sind. Sollen wir weiterhin an dieses fromme Märchen glauben, wenn Medien und Politiker die Richter bei solchen Prozessen schamlos unter Druck setzen?

Robert: Jeder Richter, der einen sogenannten "HolocaustLeugner" freispricht oder auch nur subjektiv günstig beurteilt, weiss spätestens seit dem Fall Deckert, dass dann sein eigener Kopf rollt. Kann man da noch von einer unabhängigen Justiz reden?

Arturo: Am besten sollen die Mediengewaltigen bei solchen politischen Prozessen doch das Urteil gleich selbst fällen.

Ingrid: Stimmt. Die Medien spielen eine besonders trübe Rolle in diesem Trauerspiel. Ihre Funktion ist die eines Wachhunds, der dafür sorgt, dass Politiker und Richter die von ganz oben gewünschten Entscheide fällen. Die Medien beschimpfen die Revisionisten...

Max: Was heisst das?

Ingrid: Als Revisionisten bezeichnet man jene, welche die systematische Judenausrottung im Dritten Reich und die Existenz der Nazigaskammern bestreiten. Die Revisionisten werden in den Medien ständig angegriffen und mit dümmlichen Totschlagevokabeln wie "AuschwitzLeugner" beschimpft, doch niemals wird auch nur ein einziges ihrer Argumente angeführt, und nur selten wird der Titel eines revisionistischen Buches genannt. Wer, bitteschön, hat eigentlich Grund, eine freie Diskussion zu fürchten?

Marietta: Zurück zu Klaras Argumenten. Wenn du behauptest, die Sonne kreise um die Erde, schreibt niemand ein Buch gegen dich. Hingegen sind gegen die Revisionisten schon mehrere Bücher verfasst worden, in denen allerdings auch die Beschimpfung an die Stelle des Arguments tritt (5).

M. Lämple (resigniert): Ihr redet ja wie gedruckt. Ich sehe, Arturo hat euch gründlich indoktriniert.

Arturo: Wir sind in der Tat an mehreren Abenden und Wochenenden zusammengesessen und haben über die Sache gesprochen. Von den wichtigsten revisionistischen Schriften haben wir einige gelesen, aber wir kennen auch die Argumente der Gegenseite und sind deshalb für die kommende Diskussion gerüstet.

M. Lämple: Wir werden sehen. Die HolocaustProjektwoche findet also statt, Klara. Du wirst mir dann recht geben: ðberzeugen ist besser als strafen! Die Wahrheit setzt sich auch ohne Zwang durch.

Arturo: Da liegen Sie goldrichtig. Fragt sich eben nur, was die Wahrheit ist.

Anmerkungen zu Kapitel I