Micheline Calmy-Reys: Der Mord an sechs Millionen Juden ist «...eine historische Tatsache, an der es absolut nichts zu rütteln gibt!"

Quelle:  Die Weltwoche

Von Urs Gehriger, Pierre Heumann und Markus Somm

Micheline Calmy-Reys Idee eines Holocaust-Seminars mit den Iranern entsetzt jüdische Organisationen. Der Vorschlag ist typisch für eine Aussenpolitik der Fettnäpfchen und Irrungen. Die aufrechte, aber konfuse Bundespräsidentin erzeugt Kollateralschäden.

In der Psychologie spricht man von einer kongraden Amnesie, einem Gedächtnisverlust, der sich auf ein bestimmtes Ereignis bezieht: Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey kann sich offenbar nicht mehr daran erinnern, dass sie letzten Dezember einer iranischen Delegation die Organisation eines «Seminars zur unterschiedlichen Perzeption des Holocausts» in der Schweiz angeboten hat.

Seit die Weltwoche diese diplomatische Offerte publik gemacht hat, setzt die sozialdemokratische Aussenministerin auf eine Vertuschungsstrategie. Kaum lag die Zeitung letzten Donnerstag am Kiosk auf, sandte das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten, EDA, ein Schreiben an Vertreter der jüdischen Gemeinden der Schweiz, worin der Redaktion die Verbreitung von Unwahrheiten vorgeworfen wurde.

«In der heutigen Ausgabe der Weltwoche ist davon die Rede, ich hätte in einem Gespräch mit dem iranischen Vize-Aussenminister Jalili im Dezember 2006 den Eindruck erweckt, es gebe in Bezug auf den Massenmord an den Juden einen Interpretationsspielraum. Zudem hätte ich den iranischen Behörden ernsthaft eine Plattform angeboten, damit diese ihre Holocaust-Leugnung auch noch artikulieren könnten. Es liegt mir sehr am Herzen, Ihnen mitzuteilen, dass diese Darstellung nicht der Wahrheit entspricht.»

Während sich Calmy-Rey in dem Schreiben von jeglicher Leugnung oder Verharmlosung des Holocausts distanziert, geht sie mit keinem Wort auf ihren Vorschlag gegenüber den Iranern ein, der in einer vertraulichen Aktennotiz vom 22. Dezember 2006 festgehalten ist und welcher der Weltwoche vorliegt:

«Departementschefin schlägt vor, dass ein Seminar zur unterschiedlichen Perzeption des Holocausts an einem der Genfer Zentren organisiert werden könnte.» Dieser Satz [...] widerlegt die Beteuerungen von Calmy-Rey und die Anschuldigungen gegen die Weltwoche.

"Falsches Zeichen an Iraner"

Allein die Verwendung des Begriffs «Perzeption» in Bezug auf den Holocaust ist irreführend. Der Mord an sechs Millionen Juden ist keine Frage der Wahrnehmung, sondern, wie Calmy-Rey in dem Brief weiter unten selber schreibt, «eine historische Tatsache, an der es absolut nichts zu rütteln gibt».

Es mutet vor dem Hintergrund abwegig an, wenn Calmy-Rey vorschlägt, ein Seminar über die «unterschiedliche» Perzeption zu organisieren. Damit lässt die Bundespräsidentin gar keinen anderen Schluss zu, als dass es in Bezug auf den Massenmord Interpretationsspielraum gebe.

Schwach begründet ist auch Calmy-Reys Dementi bezüglich einer Plattform für Holocaust-Leugner: Wer zum Seminar anregt, bietet ein Forum an. Wer Mitglieder der iranischen Regierung einlädt, ist sich bewusst, dass er erklärte Holocaust-Leugner an den Tisch holt.

Diese Ansicht teilt Alfred Donath, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Er bezeichnet das Seminar-Angebot als ein "falsches Zeichen an die iranischen Revisionisten". Die Schweiz erwecke damit nur den Eindruck, dass der Holocaust auch in Europa verschieden interpretiert werden könne.

Donath hat recht. Calmy-Reys Seminar würde eine Gespensterdebatte legitimieren, die in Europa gar nicht stattfindet.

Protest jüdischer Organisationen

Mit Blick auf das Schreiben der Bundespräsidentin, das auch er erhalten hat, sagt er: «Wir haben das Gefühl, dass Frau Calmy-Rey sehr verlegen ist. Deshalb hat sie ihre Rechtfertigung breit gestreut.»

Gleichzeitig hält Donath fest, er sei davon überzeugt, dass sie keinen Zweifel an der Existenz des Holocausts hege. Er verweist auf ihre Bemühungen, den 27.Januar als Holocaust-Tag zu verankern, und auf zahlreiche ähnliche öffentliche Bekenntnisse.

Indem sie sich im Brief dezidiert zum Faktum Holocaust äusserte, ist es Calmy-Rey offenbar gelungen, die Gemüter in der jüdischen Gemeinde zu beruhigen. Verschiedentlich wurde sogar bezweifelt, ob die Aussenministerin diesen Vorschlag tatsächlich gemacht habe.

Daran besteht kein Zweifel. Ein Mitarbeiter des EDA, der am fraglichen Gespräch letzten Dezember beteiligt war, hat nicht nur bestätigt, dass Calmy-Rey diesen Vorschlag gemacht hat, sondern auch erläutert, wie es dazu gekommen ist: Die Idee sei nicht vorher mit der Task-Force Iran abgesprochen, sondern spontan «aus den Umständen geboren» worden. Es sei klar, dass man mit einer solchen Veranstaltung Holocaust-Leugnern ein Podium anbieten würde.

Nach der Reaktion gefragt, die der Vorschlag im Kreis der Task-Force Iran ausgelöst hat, sagte ein Diplomat. «Nach meinen Informationen wurde das einfach so stehen gelassen.» Die Idee werde nicht vertieft. Mit anderen Worten, faktisch steht das Angebot immer noch im Raum.

Während in der Schweiz Calmy-Reys Fehltritt weitgehend mit Stillschweigen quittiert wurde, hat die Anti-Defamation League (ADL), eine einflussreiche amerikanische Organisation, die gegen Antisemitismus kämpft, mit Entsetzen auf Calmy-Reys Holocaust-Seminar-Vorschlag reagiert.

Nach Ansicht des ADL-Vorsitzenden Abraham Foxman haben die diversen Schreiben aus dem EDA nichts zur Klärung der Situation beigetragen: «Wir haben darin keine sinnvolle Erklärung gesehen, weshalb diese Offerte den Iranern unterbreitet worden ist. Wir warten immer noch auf eine Antwort, um zu erfahren, was das Motiv der Schweizer Bundespräsidentin war.»

Die Antwort ist bis Redaktionsschluss ausgeblieben. Ein Interview mit der Weltwoche, in dem sie ihren Standpunkt zum Seminar-Vorschlag hätte erläutern können, hat Calmy-Rey abgelehnt. Die Bundesrätin spricht seit knapp vier Jahren nicht mit diesem Blatt.

Das Simon Wiesenthal Center (SWC) fordert in einem offenen Brief Calmy-Rey auf, «diesen entsetzlichen Vorschlag zu dementieren oder zurückzuziehen und sich bei allen Überlebenden des Holocaust und dem Andenken an dessen Opfer zu entschuldigen». Mit diesem Vorschlag habe die Schweiz den Status der Neutralität aufgegeben. Und an die Adresse von Calmy-Rey: «Sie haben so der politischen Agenda des Iran gedient.»

Doch bereits kommen neue Befürchtungen auf angesichts weiterer Aktionen Calmy-Reys. Im Gespräch mit der Weltwoche warnt Shimon Samuels vom SWC vor der Absicht der Bundespräsidentin, sie werde den palästinensischen Regierungschef Ismail Hanije zu einem Gespräch empfangen, falls dieser in die Schweiz komme. «Er trägt in seiner Aktentasche eine Verfassung, die den Völkermord predigt», sagt Samuels über den Vertreter der Hamas, die in EU-Liste der Terrororganisationen steht und deren politisches Programm auf einer antiisraelischen und antisemitischen Ideologie basiert.

Ismail Hanije wurde von der Gesellschaft Schweiz-Palästina in die Schweiz eingeladen und hat sich offenbar an einem Besuch sehr interessiert gezeigt. Das käme in Europa einem Tabubruch gleich.

«Eine solche Geste würde von der ganzen jüdischen Gemeinde in der Schweiz wie eine Beleidigung und Geringschätzung empfunden», schrieb auch Alfred Donath vom SIG in einem Brief an Calmy-Rey Ende Mai. Wie der SIG ist auch Samuels höchst besorgt, dass die Schweiz Wegbereiterin für eine «Welle des Appeasement» in Europa werden könnte. Das Modell der Schweiz, so Samuels, sollte «rationale Neutralität» und nicht proaktive Neutralität sein.

Sponti-Aussenpolitik

Calmy-Reys Avance gegenüber den Iranern ist nicht ihr erster Fauxpas, sondern reiht sich in eine Serie von aussenpolitischen Aktionen ein, die mehr spontan als überlegt wirken, die mehr dem kurzfristigen Erfolgs- und Effektdenken verpflichtet scheinen als einem echten Anliegen. Es zeigt sich ein Muster: Die optimale Vermarktung steht im Vordergrund, die Wirkung wird kaum überprüft. Nachhaltigkeit gehört nicht zu den Eigenschaften dieser Politik.

Zwar ist es Calmy-Rey ohne Zweifel gelungen, die einst elitär wirkende Aussenpolitik einer breiteren Bevölkerung nahezubringen. Schlagzeilen über einen schweizerischen Friedensplan im Nahen Osten erscheinen heute in Boulevard-Zeitungen. Doch der Preis ist hoch. Erkundigt man sich nach Resultaten, ist der Befund mager.

Die Genfer Initiative, die den Frieden zwischen Israel und den Palästinensern stiften sollte, wurde im Dezember 2003 im Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit verkündet. Die Aussenministerin fuhr eigens nach Genf, um die privaten Bemühungen von Israelis und Palästinensern zu unterstützen. Dreieinhalb Jahre später ist davon nichts übriggeblieben.

Was vermutlich gut gemeint war, galt unter Diplomaten von vornherein als aussichtslos: Die Idee, die israelische Regierung aussen vor zu lassen und sich stattdessen auf oppositionelle Kräfte innerhalb Israels zu stützen, liess das Unterfangen scheitern. Ausserdem galten die beiden Verhandlungsführer in ihren betreffenden Ländern als Leichtgewichte. Nicht ohne Grund war die damalige Nummer 2 im EDA, der erfahrene Staatssekretär Franz von Däniken, lange nicht auf das Angebot eingetreten, das ihm von einem Genfer Privatmann unterbreitet worden war. Erst Calmy-Rey griff es entschlossen auf und verschaffte ihm die nötige Dynamik.

Hier zeigen sich exemplarisch Stärken und Schwächen der Aussenministerin: Sie ist ausserordentlich entscheidungsfreudig - bis zur Schmerzgrenze. Oft wissen ihre engsten Mitarbeiter am Montag nicht, was sie erwartet, wenn die Chefin aus dem Wochenende zurückkehrt. Über Nacht, so scheint es, sind ihr neue Ideen und Projekte eingefallen oder von Vertrauten eingeflösst worden. Deren Umsetzung soll unverzüglich eingeleitet werden.

«Ich will das» - nur diese Worte kenne die Chefin bei solchen Gelegenheiten, sagen enge Mitarbeiter. Widerrede, selbst bei unausgegorenen Vorschlägen, ist nicht erwünscht. Als die Genfer Initiative innert nützlicher Frist nichts Greifbares erbrachte, verlor Calmy-Rey das Interesse und wandte sich den Syrern zu. Ohne die Amerikaner zu informieren, leitete das EDA geheime Verhandlungen zwischen Syrern und Israelis ein.

Auch dieses tollkühne Unternehmen verlief im Sand. Es hinterliess Kollateralschaden: Die Amerikaner waren verärgert, weil es hinter ihrem Rücken geschehen war. Die Palästinenser fühlten sich vor den Kopf gestossen, weil ihnen bewusst war, dass Israel nur einen Friedensprozess auf einmal bewältigen konnte. Wenn mit den Syrern verhandelt wird, bewegt sich zwischen Israel und den Palästinensern gar nichts mehr.

Selbst ihr wohlgesinnte Mitarbeiter nennen Calmy-Rey eine «Chaotin». Damit sind zwei Dinge gemeint, die sich bei ihr nicht trennen lassen. Zum einen ist der persönliche Arbeitsstil der Aussenministerin unberechenbar und sprunghaft, was Mitarbeiter euphemistisch als eine «Herausforderung» bezeichnen. Termine werden kurzfristig umgestellt, Projekte plötzlich angestossen, vertraute Mitarbeiter fallen von einem Tag auf den andern in Ungnade und verschwinden in der inneren Emigration. Zum andern bezieht sich die Kritik auf die Unstetigkeit, mit welcher die Aussenminsterin ihre politischen Pläne verfolgt. Ihr sicheres Gespür für Themen, welche die Menschen in der Schweiz bewegen, sei es der Irak-Krieg, sei es die unbeliebte Bush-Regierung oder die Libanon-Kampagne der Israelis, erweist sich als Stärke und Schwäche zugleich. Wie ein Feinschmecker, der sich am kalten Buffet nicht entscheiden kann, welche Speise er zu sich nehmen will, probiert Calmy-Rey von allen Dingen ein wenig aus. Ein Gürkchen hier, ein Brötchen da. Was sie vor ein paar Wochen als Anliegen der Welt präsentierte, ist heute vergessen.

Ihr Sponti-Stil schwächt ihre Durchsetzungsfähigkeit, besonders im Bundesrat. Vor Wochen liess ihr Departement an die Medien durchsickern, dass sie den Antrag stellen werde, 500 irakische Flüchtlinge aufzunehmen. Im Bundesrat begründete sie dies mit dem Hinweis, alle westeuropäischen Länder hätten bereits zugesagt, die Schweiz müsse mitziehen. Das traf nicht zu. Kurz zuvor hatte in Genf eine Flüchtlingskonferenz stattgefunden, wo kein einziges Land eine verbindliche Zusage abgegeben hatte. Nur Schweden war bereit, die Idee zu «prüfen» - was diplomatisch ausgedrückt ebenfalls Nein hiess. Hätte Calmy-Rey sich sorgfältig informiert, wäre sie gar nicht mit diesem Antrag in den Bundesrat gekommen. Vielleicht wusste sie es und nahm die absehbare Niederlage in Kauf - im Wissen, dass die Medien sie als humanitäre Heldin feiern werden, die den hartherzigen Kollegen unterlegen ist.

"Die Madame"

Das wäre nicht das erste Mal. Je weniger sie politisch im Bundesrat erreicht, desto strahlender erscheint ihr Bild in den Medien. Es gehört zu den Wundern von Bern, dass es Calmy-Rey gelingt, in der Öffentlichkeit so günstig dargestellt zu werden, während sie jenen, die täglich mit ihr zu tun haben, ein anderes Gesicht offenbart. Eine Politikerin, die viel Aufmerksamkeit auf sich zieht, aber selten ein Ziel realisiert, gilt als mächtig. Eine Chefin, die in ihrem Departement mehr gefürchtet ist als ihr cholerischer Vor-Vorgänger Flavio Cotti, wird als warmherzige Magistratin gefeiert.

«Niemand da draussen», sagt ein Mitarbeiter, «würde glauben, was für eine autoritäre und unbeliebte Chefin sie ist.» Hinter vorgehaltener Hand spricht man von «der Madame». Sitzungen dauern so lange, wie sie will, was gar Amtsdirektoren zwingt, in ihrem Terminplan drei bis vier Stunden zu blockieren.

Ein Phänomen der «unterschiedlichen Perzeption»: Während die Medien den Eindruck erwecken, eine tapfere Linke werde im Bundesrat von einem bürgerlichen Rollkommando überrannt, sieht die Wahrheit prosaischer aus. Anträge sind schlecht vorbereitet und scheitern deshalb. Es kommt vor, dass Calmy-Rey noch während der Bundesratssitzung einen Antrag umschreiben will.

Nichts illustriert diese Hauruck-Methode besser als der Fall China. Im vergangenen Herbst, ein paar Wochen vor einer geplanten Reise nach Peking, legte die Aussenministerin dem Bundesrat ein Grundsatzpapier zu den Beziehungen zur aufsteigenden Wirtschaftsmacht vor. Es stiess auf Bedenken und wurde zur Überarbeitung ins EDA zurückgeschickt. Zwei Mal liess Calmy-Rey es wieder für den Bundesrat traktandieren, zwei Mal nahm sie es von der Liste, das zweite Mal spät am Dienstag, kurz vor der Bundesratssitzung am Mittwoch. China kam daher nicht mehr zur Sprache, bevor die Aussenministerin in den Fernen Osten flog. Dann überstürzten sich die Ereignisse.

Diplomatie mit dem Sekundenkleber

Kaum in Peking angekommen, vermutlich unter dem Druck, etwas Handfestes nach Hause bringen zu müssen, liess sich Aussenministerin Calmy-Rey auf Verhandlungen über ein «memorandum of understanding» ein. Ein Abkommen, das in allgemeiner Art das Verhältnis der beiden Länder ordnen sollte. Nicht sehr verbindlich, aber substanziell genug. Aus Peking erfuhren die verdutzten Bundesräte am Freitag, dass Calmy-Rey sogleich unterschreiben möchte, weshalb sie eine Telefonkonferenz der Regierung verlangte, um das Papier ruck, zuck zu genehmigen. Jetzt bockten die Kollegen. Schliesslich fiel das Ansinnen durch.

Zu Recht, wie sich im Nachhinein herausstellte: Calmy-Rey war den chinesischen Kommunisten weit entgegengekommen. So hätte sich die Schweiz verpflichtet, «sämtliche Aktionen», die zur «Unabhängigkeit Taiwans» führen, abzulehnen. Zwar anerkennt die Schweiz Taiwan offiziell nicht, doch pflegt das Land pragmatische und gute Beziehungen zur Inselrepublik. In einem Wort: Dieser Satz hätte die Aussenpolitik der Schweiz gegenüber den beiden China, wie sie seit 1950 gewachsen ist, auf den Kopf gestellt. Ohne Gegenleistung, ohne Gewinn, die Aussenministerin benötigte einen Fototermin. (Viele Schweizer Journalisten waren mitgereist.) Das Ergebnis war unerfreulich: Taiwan war irritiert und China beleidigt, weil die Schweiz nun indirekt festhalten musste, dass sie die «Unabhängigkeit Taiwans» nicht bekämpft.

Calmy-Reys Ruf unter Amtskollegen hat gelitten. Ihre unstete Politik ist legendär. Sie verfügt nicht über ein Netzwerk, das ihren globalen Ambitionen entspricht, und mit der amerikanischen Aussenministerin Condoleezza Rice hat sie es sich gründlich verdorben.

Colin Powell vor den Kopf gestossen

Nach intensivem Lobbying in Washington war es der Berner Botschaft der USA gelungen, Rice zu einemTreffen mit Calmy-Rey zu überreden. Vier Jahre lang war es zu keiner Begegnung auf höchster Ebene gekommen, nachdem die Schweizer Aussenministerin kurz nach ihrer Wahl den damaligen Chef des State Department, Colin Powell, vor den Kopf gestossen hatte, indem sie ihn geradezu zu einem Gespräch in Davos genötigt hatte. Beim zweiten Annäherungsversuch sollte nichts schiefgehen. Für das Treffen in Washington stellte man jetzt eine lange Traktandenliste zusammen.

Doch Calmy-Rey hielt sich nicht daran, sondern verwendete drei Viertel der Redezeit darauf, über die Haftbedingungen in Guantánamo zu sprechen. Rice, so hört man aus dem State Department, war dermassen verärgert, dass sie ihren Mitarbeitern mitteilte, sie möchte diese Frau nie mehr treffen.

Dass Calmy-Rey in Washington wie eine Vertreterin von Amnesty International auftritt, ist kein Zufall. Es hat nicht nur damit zu tun, dass sie links steht. Vielmehr ist es Abbild eines stillen Kulturwandels im EDA, das sich in manchen Abteilungen zu einer Art staatlich finanzierter NGO entwickelt hat. Konfliktlösung, Friedensarbeit: Junge, ehrgeizige Leute zieht es heute alle in die Politische Abteilung IV, zuständig für «menschliche Sicherheit», die sich weltweit darauf spezialisiert hat, zivile Konfliktlösungen zu fördern, zwischen Streithähnen zu vermitteln und sogenannte Zivilgesellschaften aufzubauen. Ähnlich wie die Deza arbeitet man oft eng mit NGOs zusammen, zum Teil waren die neuen EDA-Mitarbeiter vorher in einer NGO tätig. Die Grenzen sind fliessend.

Die Mission dieser Abteilung ist naturgemäss expansiv und idealistisch. Man schwärmt in alle Welt aus, sucht Konfliktherde und achtet dabei darauf, dass das, was man tut, in der Heimat wahrgenommen wird. Diese Marketing-Überlegungen dürften ein Grund unter anderem sein, warum sich das EDA dermassen auf den Nahen Osten gestürzt hat. Kein Konflikt ist bekannter. Kein Vermittlungserfolg würde in der Schweiz mehr Aufmerksamkeit erregen als ein Durchbruch in diesem Konfliktherd. Selbst Calmy-Rey, so eigensinnig sie sein mag, wird vom Eigensinn einer Verwaltung getrieben, die auf der Suche nach neuen Aufgaben ist.

Nicht neutral, aktiv neutral, egal

Was ist die Essenz ihrer Aussenpolitik? Im Grunde ist die Genfer Sozialdemokratin Innenpolitikerin geblieben. Und zwar eine populistische, im guten wie im schlechten Sinn: Ihre Aktionen orientieren sich am heimischen Publikum - nicht an den Interessen des Landes oder der Weltpolitik. Der Nahe Osten gehört nicht zu den traditionellen Domänen schweizerischer Aussenpolitik, zudem stehen sich die Vermittler längst auf den Füssen herum.

Doch die Bevölkerung erregt, was in Israel und den besetzten Gebieten vorfällt. Es ist ein emotionales Thema. In keiner andern Region der Welt ist die Schweiz mittlerweile stärker engagiert, auch die Deza investiert im Ausland nirgendwo mehr als in den palästinensischen Gebieten (23,5 Millionen im Jahr 2005).

Europa interessiert die Leute nicht mehr besonders, also hört man auch von Calmy-Rey wenig in dieser Hinsicht. Obwohl ihre Partei, die SP, den Beitritt nach wie vor anstrebt, biedert sich die Genferin bei den zusehends euroskeptischen Schweizern mit robusten Sprüchen gegen Brüssel an. Was das ihr unterstellte Integrationsbüro, eine Art europhile Beitrittsabteilung der Bundesverwaltung, keineswegs daran hindert, in jeder Auseinandersetzung mit der EU instinktiv fürs Nachgeben zu plädieren. Calmy-Rey unterschreibt auch das.

Besser als andere hat Calmy-Rey begriffen, dass die Schweizer an der Neutralität hängen. Noch in den neunziger Jahren prophezeiten kluge Professoren in langen Abhandlungen deren baldiges Verschwinden. Was die Schweizer Bevölkerung für nützlich hielt, wurde zum «Mythos» erklärt. Doch Umfrage nach Umfrage ergab, dass kein Prinzip in der Schweiz beliebter ist: 81 Prozent gaben 2006 an, dass sie die Neutralität als unverzichtbar betrachteten - unverzichtbarer als den Föderalismus und die direkte Demokratie.

Schlau hat Calmy-Rey dem Rechnung getragen und bezeichnet ihre eigene interventionistische Politik als «aktive Neutralitätspolitik». In der Substanz ist ausser dem Begriff «Neutralität» bei Calmy-Rey wenig übriggeblieben, was früher die traditionelle Neutralitätspolitik der Schweiz ausmachte. Diese bestand darin, möglichst langweilig zu wirken und im Zweifelsfall nichts zu tun, nichts zu sagen, nichts zu finden.

Calmy-Reys EDA dagegen macht das Gegenteil. Es tut viel, redet gern, verurteilt hier und dort, mischt sich ein, bietet und biedert sich an. Der Zweck bleibt dunkel, der Schaden wird grösser.