Weil immer mehr Normalbürger das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der etablierten Parteien verloren haben, hat Frau Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, Karriere-Funktionärin der SPD (1998-2002 Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister des Innern und seit 2002 Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestages) für alle Abgeordneten und Journalisten Direktiven veröffentlicht, wie sie sich Andersdenkenden gegenüber zu verhalten haben:

 Leitlinien für den Umgang mit Rechtsextremen

 I. Gemeinsame Leitlinien für Parlamentarier und Journalisten

 (1.) Bekämpfen statt verschweigen!

Sechzig Jahre nach Auschwitz haben wir es in Deutschland - wie auch all die Jahre und Jahrzehnte davor - mit Neonazis und Rechtsextremismus zu tun. Diese gesellschaftliche Wirklichkeit ändert sich nicht, wenn sie verschwiegen wird. Die Aufmerksamkeit muß sich gerade im örtlichen Bereich auf rechtsextreme Szenen oder Gewalttaten richten - trotz der Sorge um eine abschreckende Wirkung auf Investoren oder Touristen. Wichtig ist es, eine breite gesellschaftspolitische Offensive gegen den Rechtsextremismus zu starten und Ross und Reiter beim Namen zu nennen. Der Rechtsextremismus muß mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen und demokratischen Mitteln bekämpft werden.

 (2.) Die rechtsextremen Saubermänner entlarven!

Oberstes Ziel muß sein, das passiv-zustimmende Umfeld der rechtsextremen Parteien anzusprechen - in dem Bestreben, das Saubermann-Image und die vermeintliche Glaubwürdigkeit der rechtsextremen Protagonisten zu erschüttern. Viele Führungsfiguren von NPD oder DVU geben sich als Fahrlehrer oder Arzt ganz bürgerlich, sind aber in Wirklichkeit Verfassungsfeinde und oft vorbestrafte Kriminelle. Um sie zu entlarven, müssen ihre Biographien sowie die Aussagen, Programme und politischen Standpunkte der Parteien durchleuchtet werden. Klare Parallelen zur NS-Ideologie oder die Nähe zu rechtsextremen Gewalttätern müssen einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt werden.

 (3.) Die Parolen und Scheinargumente der Rechtsextremen zerpflücken!

 In der politischen Auseinandersetzung und der Berichterstattung müssen die Parolen und Aussagen der Rechtsextremen mit präzisen Informationen nüchtern widerlegt werden, ihre menschenverachtende und verfassungsfeindliche Ideologie muß aufgedeckt werden. Das gilt vor allem für diejenigen Politikfelder, die NPD und DVU außerhalb des "gängigen" rechtsextremen Repertoires populistisch zu besetzen versuchen - zum Beispiel soziale Gerechtigkeit (Protest gegen Hartz IV, Kampagne gegen "Rentenklau"), Globalisierung (als angebliche Strategie des internationalen Kapitals, die "deutsche Identität" zu untergraben), Anti-Amerikanismus und Geschichtsklitterung (wie die Mär von der "Schuldknechtschaft" des deutschen Volkes).

 (4.) Distanz halten!

Rechtsextreme Parlamentarier und Parteifunktionäre sind keine Politiker wie alle anderen - und dürfen auch nicht als solche behandelt werden. Das bedeutet, daß Vertreter des demokratischen Lagers stets Distanz zu Rechtsextremen zu wahren haben. Rechtsextreme darf man ausgrenzen - ohne ihnen jedoch die Gelegenheit zu geben, sich zu Märtyrern zu stilisieren.

 (5.) Auf die Wortwahl achten!

 Bei der Auseinandersetzung mit rechtsextremen Meinungsführern und deren Sympathisanten sollte man die Wortwahl sorgsam abwägen. Wer beispielsweise von "rechtsradikalen Rattenfängern" spricht, verletzt das Selbstwertgefühl von Menschen, die sich von NPD oder DVU auf eine diffuse Weise angesprochen fühlen. Menschen sind keine Ratten.

 (6.) Die Ängste der Menschen ernst nehmen - aber Rechtfertigungsgründe nicht akzeptieren!

Rechtsextreme Meinungsführer und Aktivisten verdienen keine verständnisvolle Behandlung. Auch die Wähler und Wählerinnen der rechtsextremen Parteien dürfen nicht mit Samthandschuhen angefaßt werden. Denn es ist falsch, die Unterstützung der Rechtsextremen zum Beispiel mit der hohen Arbeitslosigkeit und mit schlechten Ausbildungschancen zu rechtfertigen. Soziale Unsicherheit und Perspektivlosigkeit mögen den Nährboden bilden - aber kein noch so trister Alltag kann Anlaß dafür sein, in einer Partei von Antisemiten, Rassisten und Verfassungsfeinden Mitglied zu werden oder einer solchen Partei die Stimme zu geben. In der Diskussion mit dem zustimmenden Umfeld der rechtsextremen Parteien müssen Politiker und Journalisten allerdings die Ängste der Menschen ernst nehmen - so irrational sie auch sein mögen. Arroganz und oberlehrerhafte Argumentation führen nicht zum Ziel. 

 (7.) Verfassungsfeindlichkeit hervorheben!

Das Bundesverfassungsgericht hat der NPD im Frühjahr 2003 keinen Freibrief ausgestellt. Das Verbotsverfahren wurde aus verfahrensrechtlichen Gründen eingestellt - und nicht etwa, weil die Richter von der Verfassungstreue der Partei überzeugt waren. In der politischen Auseinandersetzung mit der NPD muß deshalb klar gemacht werden, daß sich eine nicht verbotene Partei nicht automatisch auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt. Die Verfassungsfeindlichkeit der Neonazis ist immer wieder hervorzuheben, so daß deutlich wird: Rechtsextreme stehen nicht im Parteienwettbewerb, sondern außerhalb des demokratischen Grundkonsenses. Diese Grenze darf nicht verwischt werden.

 (8.) Rechtsverstöße nicht dulden!

Rechtsverstöße, Drohungen oder tätliche Angriffe der Rechtsextremen finden bundesweit alltäglich statt. Sie müssen unmittelbar zurückgewiesen und immer wieder öffentlich verurteilt werden. Das ist angesichts des hohen Werts der freien Meinungsäußerung nicht leicht, aber durch systematische Beobachtung und Überprüfung der Sprüche rechtsextremer Politiker zu leisten. Die beschlossenen Verschärfungen beim Straftatbestand der Volksverhetzung (Verherrlichung der Verbrechen der NS-Diktatur, Verletzung der Würde der Opfer) könnten dabei weiter helfen.

 II. Empfehlungen für Parlamentarier

 (9.) Keine parlamentarische Normalität mit Verfassungsfeinden!

Im parlamentarischen Alltag kann es für Abgeordnete des demokratischen Lagers keine Bündnisse, keine gemeinsamen Anträge und kein gemeinsames Abstimmungsverhalten mit Rechtsextremen geben. Denn wer mit Rassisten und Neonazis stimmt, wertet sie auf. In der parlamentarischen Auseinandersetzung lassen sich demokratische Abgeordnete von Rechtsextremen keine Themen aufzwingen - und sie verweisen die Extremisten in ihre Schranken. Mit Verfassungsfeinden kann es keine parlamentarische Normalität geben.

 (10.) Emotionale Gesten sparsam einsetzen!

 Emotionale Gesten sind zu bestimmten, herausragenden Anlässen notwendig und richtig, nutzen sich jedoch im parlamentarischen Alltag ab. Sichtbares Sich-Abwenden, Zwischenrufe und Auszug aus dem Plenum waren beispielsweise bei dem Eklat im Dresdener Landtag zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz und angesichts der empörenden Bekundungen von NPD-Abgeordneten notwendig. Spektakuläre Schritte müssen aber sparsam eingesetzt werden, sonst verlieren sie ihre aufrüttelnde Wirkung. Im parlamentarischen Alltag entscheidet die Überlegenheit der demokratischen Argumentation.

 (11.) Unterscheidbar bleiben!

 In Parlamenten versuchen Rechtsextreme vordergründig einen demokratischen Anschein zu erwecken. Die Politiker der demokratischen Parteien müssen deshalb eine klare Trennlinie zu den Antidemokraten ziehen. Um auch bei einem oberflächlichen Blick auf die Debatten stets unterscheidbar zu sein, verbieten sich für demokratische Politiker beispielsweise Horrorszenarien über den massenhaften Zustrom von ukrainischen Schwarzarbeitern und Zwangsprostituierten oder eine Diskussion über die Frage, ob der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung oder der Niederlage war. Mit Debatten dieser Art spielt man den Rechtsextremisten in die Hände. Es darf zudem keinerlei Beiträge oder Interviews für extrem rechte Zeitschriften geben. Das gilt insbesondere für Blätter wie die "Junge Freiheit", die sich damit einen pluralistischen Anschein geben wollen.

 (12.) Schulterschluß der Demokraten üben!

 Treffen Parlamentarier des demokratischen Lagers in Podiumsdiskussionen oder Fernsehrunden auf rechtsextreme Politiker, muß die ganze Aufmerksamkeit der Demokraten der Auseinandersetzung mit den Verfassungsfeinden und deren Parolen gelten. In dieser Situation sollten die Demokraten den Schulterschluß üben und den ritualisierten Parteienstreit untereinander vermeiden.

 III. Empfehlungen für Journalisten

 (13.) Journalismus steht im Dienste unserer Verfassung!

 Der Nachrichtenjournalismus ist parteipolitisch neutral und dem Streben nach Objektivität verpflichtet. Er steht jedoch - wie auch der Meinungsjournalismus - im Dienste des Grundkonsenses unserer Verfassung und ist parteilich für die im Grundgesetz wurzelnde Demokratie. 

 (14.) Keine Wertneutralität gegenüber Neonazis!

 Die Meinungsvielfalt muß gewährleistet sein. Doch Nationalsozialismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Gegenüber den rechtsextremen Parlamentariern darf es deshalb keine Wertneutralität geben: Auch gewählte Neonazis bleiben Neonazis.

 (15.) Vorsicht bei der Berichterstattung!

 Interviews und Statements rechtsextremer Politiker zu aktuellen Ereignissen sind mit höchster Vorsicht zu behandeln, um den Neonazis nicht die erwünschte Plattform zu bieten. Interviews mit Rechtsextremen müssen deshalb flankiert werden von Kommentaren, Hintergrundberichten oder Analysen zur Einordnung. Angesichts latent rechtsextremer Einstellungen bei vielen Bürgern ist auch Vorsicht geboten bei einer Abbildung von "Volkes Stimme", sei es in Leserbriefen oder Umfragen.

 (16.) Kontinuität in der Berichterstattung!

 Journalistische Berichterstattung über rechtsextreme Parlamentarier sollte sich nicht auf punktuelle Wahlerfolge und kurzlebige Skandale beschränken. Wünschenswert ist vielmehr eine kontinuierliche Beobachtung und fundierte Kritik der Parlamentsarbeit von NPD und DVU. Je mehr Hintergrund und Analyse ein journalistischer Beitrag enthält, desto besser. Diese Art der journalistischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ist eine tägliche Herausforderung und Bewährungsprobe für Journalisten, Verleger und Medienunternehmen. Sie muß immer wieder aufs Neue in den Redaktionsräumen und Chefetagen bestanden werden.


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