Die Ernennung der ausländischen Mitglieder in die Leitung des von
Schweizer Großbanken und Industrie eingerichteten "Holocaust-Fonds"
zog sich über Wochen hin. Vom World Jewish Congress wurde Elie Wiesel
als "Chairman" vorgeschlagen, da er die Verkörperung des
Muts, des Schmerzes und des Leidens der Shoa-Überlebenden sei. Von
Anfang an war aber klar, daß der Präsident ein Schweizer sein
muß. Der Bundesrat wählte Rolf Bloch, Präsident des Schweizerischen
israelitischen Gemeindebundes (SIG). Wiesel, der gemäß der Neuen
Zürcher Zeitung an einer Midgliedschaft in der Fonds-Leitung nicht
sonderlich interessiert war, es sei denn als Präsident, wurde als
"Ehrenvorsitzender" ohne besondere Vollmachten ernannt. Der Umgang
mit Millionen war Wiesel doch nicht geheuer, weshalb er verzichtete. Nachdem
kein anderer Kandidat gefunden werden konnte, wurde WJC-Boss Bronfman selber
als Mitglied gewählt.
Block hatte als Präsident bereits seine erste Bewährungsprobe
zu bestehen, indem er das unglaubliche Ansinnen ablehnte, Mittel aus dem
Banken-Fond zur Finanzierung der US-Sammelklagen gegen die Schweizer Banken
zur Verfügung zu stellen. Bloch wollte Elie Wiesel als "moralisches
Gewissen" in der Fond-Leitung, Grund genug, sich mit dem Friedens-Nobelpreis-Träger
von 1986 näher zu befassen. Warum er diesen erhielt und nicht etwa
den Literatur-Nobelpreis, erscheint schleierhaft angesichts so irritierender
Sätze wie z.B. "Jeder Jude sollte in einem Winkel seines Herzens
immer einen gesunden, starken Haß gegen die Deutschen und alles Deutsche
bewahren. Es nicht zu tun, wäre Verrat an den Toten".
Wiesel, geboren 1928 in Sighet (heute wieder Rumänien, damals Ungarn),
wurde 1944 mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert und vor Kriegsende
nach Buchenwald verlegt, wo sein Vater starb. Er lebte nach dem Krieg in
Paris, seit 1956 hauptsächlich in den USA. Berühmt und seiner
ständigen Geldnöte enthoben wurde er mit seinem 1958 auf französisch
erschienenen Buch La Nuit, mit dem er seine Erlebnisse in Auschwitz verarbeitete.
Dieses Buch liegt in deutscher Übersetzung unter dem epischen Titel
"Die Nacht zu begraben, Elischa," vor.
Wiesel gilt als wichtiger Zeuge und eigentlicher Erfinder des heute allgemein
verwendeten Begriffes "Holocaust". Dieses griechisch-englische
Kunstwort bedeutet "vollständig verbrannt" oder Brandopfer.
Die religiöse Dimension dieses Begriffes liegt auf der Hand und begegnet
einem ständig in Wiesels Werk.
Bei der Würdigung von Wiesels "moralischer Autorität"
stützen wir uns auf die deutsche Fassung seiner Autobiographie, "Alle
Flüsse fließen ins Meer", wo er seine durch die jüdische
Tradition und Geschichte geprägte Gedankenwelt enthüllt.
Wiesel wuchs in einer sehr religiösen Familie auf. Er hätte,
wie sein Vater, den er bewunderte, fürchtete und liebte, Rabbi werden
sollen. In Anspielung an die Geschichte von Abraham und Isaak schreibt
er, er hätte nicht geahnt, daß er eines Tages mit seinem Vater
in ungeheurer Einsamkeit vor einen Altar ganz anderer Art habe treten müssen,
er aber-anders als in der Bibel-alleine von dieser Prüfung zurückgekommen
sei. Als Jugendlicher widmete er sich mit großer Hingabe religiösen
Studien. In der Talmudschule lernt er, daß die Juden seit Abraham
auf der einen Seite stehen und alle anderen Völker auf der anderen.
Daher die ewige Feindseligkeit gegen die Juden. Wiesel betrieb aber auch
noch andere Studien. Freimütig gesteht er, daß er wie seine
zwei Freunde wahnsinnig geworden wäre, wenn nicht im Frühjahr
1944 die Deutschen in Sighet einmarschiert wären, was ihn auf den
Boden der Realität zurückbrachte. Wiesel hatte sich mit einigen
Gleichgesinnten intensiv mit kabbalistischen Geheimlehren beschäftigt.
Der verschworene Kreis wollte durch magische Praktiken den unheilvollen
Lauf der Geschichte zum Besseren wenden. Eine solche Beschäftigung
ist sehr schlecht für die geistige Gesundheit eines Halbwüchsigen.
Er sei nun 65 und gehöre einer Generation an, die von der Aufgabe
besessen sei, sich zu erinnern und alles festzuhalten und weiterzugeben.
Er gibt sich ehrlich und anspruchsvoll: "Wer seine Lebenserinnerungen
schreibt, verfolgt ein gewisses Ziel und schließt ein Abkommen mit
dem Leser, alles zu offenbaren, nichts auszulassen oder zu verheimlichen".
Wiesel hält das Abkommen mit dem Leser in keiner Weise. Außer
den bekannten Stereotypen erfährt man nichts Neues, v.a. nicht, was
Wiesel selber genau erlebt und gesehen hat. Absichtlich läßt
er den Leser im Dunkeln tappen. Die Nacht ist eine wichtige Metapher bei
Wiesel. Zur Rechtfertigung seines Vorgehens enthüllt er in einem inneren
Dialog mit sich selber in verblüffender Offenheit sein System theologisch
anmutender Gedankengänge. Er habe selber geschrieben, daß es
Erfahrungen gibt, die niemand ausdrücken, und Ereignisse, die niemand
beschreiben kann, daß einem manchmal schlicht die Worte fehlen, um
etwas darzustellen, was man nicht verschweigen darf. Wiesel erkennt selber
den Widerspruch und erinnert sich an den Ausspruch Wittgensteins: "Was
sich nicht sagen läßt, darüber soll man schweigen."Er
fragt sich: "Wie willst du in der Sprache des Schweigens (!) Geheimnisse
offenbaren, die zwangsläufig unergründbar sind; Wahrheiten vermitteln,
die nach deinen eigenen Worten in einem Bereich liegen, die dem menschlichen
Verstand für immer und ewig verschlossen bleiben?" Wiesels beredte
Sprachlosigkeit ist, mit Verlaub, ein gigantisches Verdunkelungs- und Ablenkungsmanöver.
Einen großen Schriftsteller zeichnet gerade aus, daß er über
menschliche Erfahrungen berichtet, sei sie noch so erschütternd oder
abgründig. Außerdem kann sich keine menschliche Untat, sei sie
noch so schlimm, der Beschreibung entziehen. "Und trotzdem"-Wiesels
Lieblingsausdruck-muß man versuchen...den Lauf der Sonne anzuhalten,
selbst wenn es vergeblich ist", schwadroniert er weiter, wie der Pfarrer
am Sonntag predigt: "ich glaube gerade, weil es absurd ist".
In weiteren atemberaubenden Sätzen enthüllt Wiesel sein Programm:
"Weil ein Geschehen sinnlos erscheint, müssen wir ihm einen Sinn
geben. Es geht nicht darum, meine Lebensgeschichte zu erzählen, sondern
die Geschichte meiner Geschichten." Bei dieser geht es immer nur um
seine Sicht, seine Interpretation des Holocausts. Doch "auch ich habe
die Wahrheit nicht gepachtet", gibt er sich bescheiden, "außerdem
kennt kein Mensch die ganze Geschichte von Anfang bis Ende außer
Gott". Wiesel tut aber ständig so, als wisse er mehr als er preisgibt.
Zur Wahrheit hat Wiesel eine eigenartige Beziehung. Verschämt gibt
er zu, in seinem Buch "La Nuit" geflunkert zu haben. Es stimme
nicht, daß sich auf der Zugfahrt nach Auschwitz die Jungen im Schutz
der Nacht hemmungslos gepaart und die andern so getan hätten, als
sähen sie nichts. Leser hatten sich beschwert, und Wiesel macht einen
Rückzieher. In der Enge des Viehwagens hätten sich nur schüchterne
erotische Kontakte und Berührungen entwickelt, die nie die Grenzen
des Anstandes überschritten hätten. Der Rest sei Phantasie. Die
fiebrigen Gedanken und Träume eines Sechzehnjährigen. Immer wieder
erwähnt er lodernde Flammen. Er habe im Schatten der Flammen gelebt,
die ihn einst erleuchteten und blendeten. So Wiesels schwülstige Prosa.
Er weiß selber nicht: "Ist es die Wirklichkeit oder ein böser
Traum?"
"Die Kabbala hat recht, es gibt die Unendlichkeit", schießt
ihm beim ersten Anblick der endlosen Stacheldrahtzäune durch den Kopf.
Nach der Ankunft im Lager wurden Männer und Frauen sofort getrennt.
Die berüchtigte Selektion an der Rampe erwähnt er nicht. Er und
sein Vater bleiben immer zusammen. Eigentlich habe er nur dank dessen Fürsorge
und Aufmunterungen überlebt. Kränklich, schüchtern, ängstlich
und antriebslos, habe er nie etwas getan, um zu überleben. Als "Muselmann"
hatte er bei der Härte und Entbehrungen des Lagerlebens keine große
Chancen. Er wundert sich aber, wie schnell sich die Menschen an das Lagerleben
gewöhnen. Die Grausamkeiten, welche die Gefangenen einander antaten,
erschüttern und irritieren ihn. Besonders die Kapos (Blockälteste)
taten sich durch Brutalität gegenüber ihren Glaubensgenossen
hervor. Eines Tages-Wiesel lebte längst in Amerika-kamen zwei junge
jüdische Anwälte zu ihm und bezichtigten ein Mitglied seiner
Gemeinde, ihren Vater im Lager halb tot geschlagen zu haben. Wiesel lehnte
ab, den Anschuldigungen Gehör zu schenken und erinnerte lieber an
die Güte und Mitmenschlichkeit unter den Gefangenen. Er habe an die
Söhne, die Rache geschworen haben, genaue, schmerzliche Fragen, wie
in einem echten Verhör gestellt. War es dunkel dort oder nicht? Wie
also konnte der Vater, eingewickelt in eine Decke, eine Stimme und ein
Gesicht erkennen? Und wenn ihm sein Gedächtnis einen Streich spielte?
Wiesel versucht mit allen Kräften, Zweifel bei den Anwälten zu
wecken.
Was bei den Missetaten eines Kapos recht ist, läßt Wiesel beim
angeblich größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte nicht
gelten. Er wirft sich vor Gott und den Menschen zum vehementen Ankläger
gegen ein ganzes Volk auf. Er will sich solch harten Fragen nicht stellen,
wie er im Falles seines Glaubensbruders stellte: Lieber ergeht er sich
in raunenden Andeutungen und Anspielungen, denn "der Mystiker in mir
warnt mich ständig: 'Vorsicht! Erzähle nicht zuviel!' Das Geheimnis
der Wahrheit liegt im Schweigen." Welche Wahrheit?
Wenn Wiesel nicht über das flammende Inferno phantasiert, wird seine
Geschichte richtig spannend. Januar 1945. Wiesel erkrankt im Lager an einer
schlimmen Knieentzündung. Es ist Winter, und er hat Fieber. Er hat
furchtbare Angst, nicht mehr arbeitsfähig zu sein, und fühlt
sich am Ende: Die Selektion droht. Trotz furchtbarer Angst entschließt
er sich in den Krankenblock zu gehen, obwohl diesen kaum einer lebend verläßt.
Und siehe da, ein Wunder geschieht! Statt als arbeitsunfähig liquidiert,
wird Wiesel von einem Lagerarzt sofort operiert und erst noch unter Narkose.
War es tatsächlich ein Wunder oder wurden nicht alle Kranken behandelt?
In Birkenau, wo Wiesel war, gab es tatsächlich ein Krankenhaus.
Kurz darauf: Die Russen nähern sich Auschwitz. Es herrschen Durcheinander
und Aufregung. Die Kranken dürfen im Block bleiben, heißt es.
Doch Vater und Sohn Wiesel treffen wieder die falsche Entscheidung wie
früher in Sighet. Statt sich in der Berghütte zu verstecken,
zogen sie gehorsam ins Ghetto. Denn sie haben Angst. Die Deutschen werden
keine Zeugen zurücklassen und alle töten, bis zum letzten Mann,
so das Gerücht. Falsch: fast alle Kranken haben überlebt. Wer
nicht wollte, mußte die Verlegung nicht mitmachen. Neun Tage später
waren die Russen da. Der italienische Schriftsteller Primo Levi hat ihre
Ankunft beschrieben. Vater und Sohn Wiesel beschlossen aber, mit den deutschen
Peinigern nach Westen zu ziehen. Die Reise im bitterkalten Winter war schrecklich.
Der Fußmarsch, der Schlaf im Schnee, die Fahrt im Stehen im Waggon.
Sie wurden halb wahnsinnig. Solche Strapazen waren nicht beabsichtigt.
Es war Kriegsende, und es fehlte an Transportmitteln. Wiesel selber spricht
übrigens nicht von einem "Todesmarsch" (wo angeblich die
Gefangenen absichtlich tödlichen Strapazen ausgesetzt wurden) wie
andere Holocaust-Propagandisten.
Im Gegenteil vernimmt der staunende Leser: die heiße Dusche nach
der Ankunft im Lager Buchenwald tut gut. Unglïcklicherweise jagt man
sie danach unbekleidet ins Freie, denn das Lager ist mit Menschen vollgestopft
und überfüllt; ein einziges Herumgeschubse. Dann gibt es heißen
Kaffee und eine warme Suppe. Doch Wiesel und sein Vater kommen nicht zum
Essen. Sie haben Angst, sich in der erregten Menschenmenge zu verlieren.
Für den Vater waren die Strapazen zu viel. Er wird krank und stirbt
bald darauf. Wiesel ist wie erstarrt.
Wie der antike Dichter Homer über die Schlacht von Troja, kundet Wiesel
seither ständig von Auschwitz, dem zentralen Thema seines Schreibens.
Birkenau-das schwarze Loch der Geschichte-(S.111) wo er fast alle Angehörigen
verloren hat. V.a. den Verlust seiner geliebten kleinen Schwester hat her
in ergreifenden Worten betrauert. Sein Credo: "Ich werde niemals aufhören,
mich gegen diejenigen zu empören, die Auschwitz geschaffen oder zugelassen
haben. Gott eingeschlossen. Die Fragen, die ich mir früher zum Schweigen
Gottes gestellt habe, sind offen geblieben. Wenn es eine Antwort gibt,
so weiß ich sie nicht. Und ich will sie auch nicht wissen,"
ruft er in trotziger Gewißheit. "Für mich steht's fest,
daß der Tod von sechs Millionen Menschen eine Frage aufwirft, die
niemals eine Antwort finden kann." Wirklich?-Eine Frage stellen, heißt
sie beantworten! Schwarze Löcher gibt es nur im Universum, nicht in
der von Menschen gemachten Geschichte.
Seit 50 Jahren ist in Tausenden von Büchern von meist jüdischen
Autoren die Judenverfolgung im Zweiten Weltkrieg berichtet worden. Als
im Epizentrum des Holocaust (Auschwitz) Dabeigewesener ist Wiesel einer
der Bedeutendsten von ihnen. In den letzten Jahren ist die Buch- und Filmproduktion
über den Holocaust ins Unermeßliche gewachsen. Im mehrbändigen
Geschichtswerk von Churchills über den Zweiten Weltkrieg, wofür
er den Nobelpreis erhielt, wird die angeblich einzigartige Judenverfolgung
kaum erwähnt. Heute hat man das Gefühl, die Juden seien die einzigen
oder hauptsächlichen Opfer des Zweiten Weltkrieges gewesen. Von den
20 Millionen Russen, die bei der Niederringung des Nazi-Reiches ihr Leben
lassen mußten, spricht niemand. Es herrscht der Eindruck vor, Hitler
habe den Krieg nur angezettelt und fortgesetzt, als er schon verloren war,
um die Juden zu verfolgen und zu vernichten.
Man weiß ziemlich genau, was Menschen vor Jahrhunderten oder -tausenden
wo getrieben haben. Schriften werden ausgelegt, Ausgrabungen gemacht, und
die Forscher vergleichen ihre Ergebnisse. Doch bei Auschwitz, das erst
50 Jahre zurückliegt, ist das völlig anders. Die Geschichte,
über welche angeblich die Worte fehlen, ist scheinbar unverrückbar
festgeschrieben. In diversen Ländern wurden Strafegesetze geschaffen,
um Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Für wie geistig beschränkt
hält man die Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts? Zur Menschenwürde
gehört das Recht zu zweifeln und Fragen zu stellen.
Doch der Mystiker Wiesel weiß genau: Faszinierend und geheimnisvoll
ist das Dunkle und Unbekannte. Es ist Projektionsfläche für Philosophen
und Künstler. Und nur die Hohepriester haben Zugang zum allerinnersten
Heiligtum. Sie wissen oder ahnen, daß der allerhinterste Schrein
möglicherweise leer sein könnte. Deshalb ihre Angst und ihre
Wut auf alle ungläubigen Zweifler. Doch das gläubige Vok darf
von all dem nichts wissen. Hunderte von meist gutgläubigen Schreibern
und Medienschaffenden arbeiten im Gefühl, der gerechten Sache zu dienen,
an der Propaganda, die uns täglich vorgesetzt wird. Doch eines Tages
werden Intellektuelle, die heute feige schweigen oder über "Auschwitz
in der Schweiz" (Walter Muschg) faseln, in gescheiten Artikeln ihrer
großen Verwunderung über die heutige Borniertheit und Blindheit
Ausdruck geben.
Claus Berger
Juni 1997
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(References available upon request)