Äußerungen über historische Themen sind kein Fall für das Strafrecht
Von Reinhard Müller
Text: F.A.Z. Nr. 60 vom 12. März 2007, Seite 1
Die alte Frage "Wie oft wird Hitler noch besiegt?" muß eigentlich lauten: Wann ist Hitler endlich besiegt? Bisher gibt es dafür kaum Anzeichen. Das Hakenkreuz steht weiterhin unter strengem staatlichen Markenschutz. Sogar in durchgestrichener Form ruft es Staatsanwälte und Gerichte auf den Plan; jetzt entscheidet darüber der Bundesgerichtshof. "Mein Kampf" steht im Giftschrank und darf auch von den Kindern und Enkeln der Erlebnisgeneration nicht ohne weiteres gelesen werden. Das Versammlungsrecht wird ausgerichtet an einer kleinen Minderheit in der Gesamtbevölkerung, die mit den Symbolen der nationalsozialistischen Herrschaft zu provozieren sucht. Althergebrachte und hart erkämpfte Regeln der Demokratie wie die Bannmeile rund um das Parlament werden verändert - beileibe nicht nach den Wünschen der Radikalen, aber letztlich doch an ihnen orientiert. Sondergesetze zum 8. Mai und zum Holocaust-Mahnmal sollen Geschmacklosigkeiten verhindern und die deutsche Erinnerungskultur frei halten von Mißbrauch. Das offenbart die große Macht, welche die Extremisten über diese freiheitliche Grundordnung haben. Stets ist sie in der Defensive - auch im Gedenken, wenn etwa anläßlich der Jahrestage der Zerstörung Dresdens durch die Alliierten gesagt wird, man wolle den "Rechten" nicht die Hoheit über den Umgang mit diesem Geschehen zugestehen.
Dieser merkwürdige Umgang mit dem hirnrissigen NS-Kult soll nun auch auf Europa ausgedehnt werden: Die Bundesregierung plant, während der deutschen Ratspräsidentschaft in der EU ein altes Vorhaben wiederzubeleben und die Leugnung des Holocaust und anderer Völkermorde unter Strafe zu stellen. Damit hat Deutschland Erfahrung. Gerade erst wurde der notorische Holocaust-Leugner Ernst Zündel - durchaus konsequent - zur Höchststrafe von fünf Jahren Haft verurteilt. Nicht wenige Gewaltverbrecher, die Menschen zu Tode gebracht haben, und viele Wirtschaftskriminelle kommen mit milderen Strafen davon; das ist ein Zeichen für die heutige Bedeutung der Strafnorm "Volksverhetzung".
Einst sollte damit die "Anreizung zum Klassenkampf" bekämpft werden. Später sprach der Gesetzgeber von "Klimaschutz"; Bundesjustizministerin Zypries redet nun vom "sozialen Frieden". Auch die EU-Kommission unterstützt den deutschen Vorstoß "in vollem Umfang". Sie weist jegliche Bekundung von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit zurück und verurteilt sie mit aller Entschiedenheit. Das ist gut zu hören, es wäre schlimm, wenn es anders wäre.
Doch solche Fanfarenstöße sind im Grunde nicht nötig. Das friedliche Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen wird nämlich schon längst geschützt, nicht zuletzt vom Strafrecht: durch die Beleidigungsdelikte und selbstverständlich auch dadurch, daß das Aufstacheln zum Hass gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen unter Strafe steht. Doch wurde das Delikt der Volksverhetzung unter einer recht großen Koalition immer mehr zu einem Sondergesetz gegen bestimmte Äußerungen und Meinungen - und das stößt sich an der Meinungsfreiheit des Grundgesetzes und auch an den europäischen Grundwerten.
Denn trotz der Einschränkungen, die das deutsche Strafgesetzbuch vorsieht und die auch die Bundesjustizministerin nun in einen europäischen Rahmenbeschluß schreiben will, ist festzuhalten: Äußerungen über geschichtliche Vorgänge sind keine Fälle für das Strafrecht, es sei denn, man will bestimmte Themen tabuisieren oder eine Denkart vorschreiben. Beides steht zur freiheitlichen Demokratie in Widerspruch. Wer allgemein bekannte historische Tatsachen leugnet, macht sich ohnehin lächerlich. Nachfragen muß aber jeder dürfen. Nichts darf per Gesetz außer Streit gestellt werden. Historische Fakten stehen fest. Aber was wir von ihnen wissen und wie wir sie beurteilen, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Insofern sind sowohl der wegen seines Beharrens auf der Existenz des türkischen Völkermords an den Armeniern zeitweise in der Türkei verfolgte Orhan Pamuk als auch der britische Historiker David Irving, der in Wien wegen Holocaust-Leugnung in Haft war, Opfer eines falschen Gesinnungsstrafrechts.
Daß auch das Verharmlosen von historischem Unrecht strafbar ist, führt zu absurden Ergebnissen. So wurde ein Landesvorsitzender des Bundes der Vertriebenen angeklagt, weil er öffentlich darauf hingewiesen hatte, daß die Zahl der Auschwitz-Opfer, wie er in Polen erfahren habe, deutlich niedriger sei als früher angenommen. Tatsächlich entsprach seine Zahl in etwa dem Stand der neuesten Forschung. Doch nach Ansicht des Bundesgerichtshofs kann auch ein solches "bewußtes Infragestellen der Opferzahlen von Auschwitz" strafbar sein.
Zudem ist eine pflichtgemäße Verteidigung solcher Angeklagter kaum noch möglich, ohne daß sich der Anwalt selbst strafbar macht. So wird neben der Meinungsfreiheit eine weitere grundlegende rechtsstaatliche Errungenschaft aus politischen Gründen über Bord gekippt. Noch gibt es die nicht unberechtigte Hoffnung, daß das Bundesverfassungsgericht einigen Auswüchsen, die überdies keinem einzigen Völkermordopfer helfen, Einhalt gebietet.
Doch in solchen Fragen politischer Korrektheit kennen die europäischen Regierungen keine Zweifel. Da wähnt man sich immer auf der richtigen Seite - wie damals bei der Isolierung Österreichs, als die FPÖ in die Wiener Regierung aufgenommen wurde. Daß der nun geplante Rahmenbeschluß letztlich den Ewiggestrigen in die Hände spielen könnte, scheinen weder die Bundesregierung noch die anderen europäischen Befürworter zu bedenken.