Totenkult und Zivilisation:
Wer die eigenen Gefallenen nicht achtet,
scheitert an der Zukunft
Michael Paulwitz
Antigone wußte, was Anstand und Moral fordern: Gegen das Verbot ihres Onkels Kreon, des Königs von Theben, bestattete sie den Leichnam ihres im Bürgerkrieg getöteten Bruders. Die Herstellung der Totenruhe als unabdingbare Voraussetzung zur Bewältigung der eigenen Trauer wollte sie sich von niemandem nehmen lassen. Sittengesetz und Seelenfriede waren ihr wichtiger als das eigene Leben.
Sophokles' Drama steht am Beginn der abendländischen Zivilisation. Einer ihrer Grundpfeiler ist, daß jeder Konflikt seinen Frieden finden muß, spätestens mit dem Untergang und Tod des Besiegten. Über den Gräbern soll der Haß endlich verstummen. Wo Gräber geschändet werden, endet die Zivilisation und beginnt die Barbarei.
So gesehen scheinen die sich häufenden “antifaschistischen" Besudelungen und politisch korrekten Schleifungen von Kriegerdenkmälern den Rückfall in archaische Zeiten anzukündigen. Politik und Medien sehen gleichgültig zu, wie das Gebäude unserer Zivilisation bröckelt.
“Den Charakter eines Volkes erkennt man daran, wie es nach einem verlorenen Krieg mit seinen Soldaten umgeht", lautet eine vielzitierte Erkenntnis Charles de Gaulles. Der deutsche Nationalcharakter ist hierin fraglos schizophren. Dem bis auf unsere Tage vorhandenen Trauerbedürfnis eines Volkes, das nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert kaum eine Familie ohne eigene Verluste kennt, steht eine offizielle Gedenkkultur gegenüber, die noch über den Tod hinaus zwanghaft “Täter" und “Opfer" sortieren will und aus schierer Furcht, dabei einen Fehler zu begehen, die eigenen Opfer nach Möglichkeit versteckt und statt dessen die Identifikation mit den NS-Opfern und den Opfern der Sieger sucht.
Der Volkstrauertag am kommenden Sonntag wird diesen Widerspruch wieder schmerzlich zutage treten lassen. Er liegt schon in der 1952 erfolgten Neukonstituierung des Gedenktages: Der Volkstrauertag sollte nicht mehr nur den gefallenen Soldaten gewidmet, sondern ein “besonderer Gedenktag für die Opfer beider Weltkriege und der Gewaltherrschaft" sein. Das mag nobel und im Geiste der Versöhnung über den Gräbern gedacht sein, solange die eigenen Toten darüber nicht in Vergessenheit geraten.
Mehr als eine verschämte und von politischen Bewertungen eingerahmte Erwähnung am Rande können die gefallenen deutschen Soldaten nach Jahrzehnten der pauschalen Kriminalisierung allerdings kaum noch erwarten. Der Patriot im Soldaten, der für sein Land und Volk starb und nicht für eine Regierung, mit der er sich vielleicht gar nicht identifizierte, ist uns peinlich. Das ist zu wenig, um mit sich selbst ins reine zu kommen. Die “Sinnlosigkeit", die man dem Lebensopfer des Soldaten unterstellt, überträgt sich auf die Lebenden.
Im verklemmten Umgang mit den eigenen Toten geht Deutschland wieder einmal einen europäischen Sonderweg. Ein Blick über den Ärmelkanal ist hilfreich: Alljährlich findet in Großbritannien am Sonntag nach dem 11. November der “poppy appeal" statt, der “Mohnblumen-Appell". Das ganze Land steht dann im Zeichen der Mohnblume, Symbol der im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern Flanderns gefallenen britischen Jugend. Auf der öffentlichen Zentralveranstaltung trug die Siegerin eines Schülerwettbewerbs ihr Gedicht vor.
Vier Fünftel der Briten haben in diesem Jahr das zweiminütige Schweigen zum Totengedenken beachtet, teilt die “British Legion" mit, die seit 85 Jahren den Appell organisiert. Ein noch größerer Prozentsatz hält den Tag noch immer für sinnvoll. Ein echter Volkstrauertag also und ein seltsamer Kontrast zu den sterilen Pflichtveranstaltungen in Deutschland hinter verschlossenen Türen und vor handverlesenem Publikum.
Der deutsche Selbsthaß bis in die Gräber ist freilich nicht allein eine Folge des verlorenen Krieges, der unserem Volk in der Tat eine “Unfähigkeit zu trauern" hinterlassen hat - eine Unfähigkeit zur Volkstrauer um die für das eigene Land gefallenen Soldaten. Die zaghafte Wiederentdeckung der Tatsache, daß es auch deutsche Opfer gab, schließt die zu Millionen auf den Schlachtfeldern und in den Lagern in Ost und West gebliebenen deutschen Soldaten noch immer weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis aus.
Die hysterische Empörung über die Totenschädel-Fotos von Bundeswehrsoldaten in Afghanistan war dafür symptomatisch. Daß auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges, auch auf deutschem Boden, bis heute gefallene Soldaten unbestattet vor sich hinmodern, daß ihre Totenruhe von geld- und sensationsgierigen Souvenirjägern gestört wird, ist auch jetzt kein Anlaß zur öffentlichen Aufregung geworden. Erwin Kowalke, Deutschlands einziger Gefallenenumbetter, kümmert sich weiter allein und ehrenamtlich um die Gebeine der toten Soldaten (siehe Interview auf Seite 3 dieser Ausgabe).
Und welches Gedenken wird den jungen Bundeswehrsoldaten, die im makabren Spiel mit dem Entsetzen ihre eigene Angst zu besiegen suchten, zuteil werden, wenn sie selbst tot auf einem asymmetrischen Schlachtfeld am Hindukusch oder in Afrika liegen? Der Verteidigungsminister erntete für seinen Vorschlag einer Gedenkstätte für im Auslandseinsatz gefallene Bundeswehrsoldaten wütenden Widerstand. Als Kompromiß wird wohl eine verschämte Kranzabwurfstelle für lästige Pflichtübungen der politischen Klasse entstehen. Warum nicht in der Neuen Wache oder vor dem Reichstag, um Politiker tagtäglich an die Folgen ihrer Entscheidungen zu mahnen?
Deutschland schickt wieder Soldaten in Kriege, aber es verdrängt, daß Krieg ohne Opfer und Tod nicht zu haben ist. Um die Fiktion aufrechtzuerhalten, die Bundeswehr sei an den neuen globalen Fronten nur als bewaffnetes THW oder Entwicklungshelfer in Oliv unterwegs, werden nicht nur die Gefallenen der vergangenen Kriege, sondern auch die der gegenwärtigen und zukünftigen heimlich und mit schlechtem Gewissen versteckt, als wären sie eine Zumutung für die Öffentlichkeit.
Soldaten müssen im Ernstfall töten und bereit sein, zu sterben. Dafür verdienen sie die Anerkennung, Dankbarkeit, ja Liebe ihres Volkes und seiner Repräsentanten. Ein Land, das seinen Toten diese Achtung verweigert, muß an künftigen Herausforderungen scheitern. Wer nicht trauern kann, darf oder will, ist in der Seele nicht gesund. Antigone wußte das. Wir müssen es wieder lernen.
Quelle: JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co., 47/06, 17. November 2006